Ste-Lucie-de-Tallano
Vendetta und Diorit (20112)
Wir erreichen eines der malerischsten Dörfer Korsikas, hoch über dem Rizzanese-Tal, 19 km nordöstlich Sartènes. Stolze Granithäuser, ein schattiger Dorfplatz, ein Trinkwasserbrunnen und rundherum das Alta Rocca-Gebirge ergeben ein stimmungsvolles Bild. Berühmt ist der Ort bei den Mineralogen aus der ganzen Welt wegen des graugrünen Diorits (Diorit orbicularis) mit schwarz-weißer Zeichnung, ein seltener und begehrter Stein, den Michelangelo für einen Teil der berühmten Grabmalskulpturen in der Medici-Kapelle zu Florenz verwendete.
Das Städtchen ist nicht nur wegen seines Gesteins, sondern auch wegen einer der grausamsten Blutfehden im 19. Jh., der über sechzig Menschen zum Opfer fielen, bekannt.
Man schreibt das Jahr 1819. In Sainte Lucie-de-Tallano, damals ein winziges Dörfchen, tragen zwei Familien eine heftige Fehde aus: die Poli und die Giacomoni. Es geht um die Macht im Dorf. Den Bürgermeister stellt die Familie Giacomoni. Die Auseinandersetzung um ein umstrittenes Wegerecht führt zum ersten Mal zu Handgreiflichkeit. Ein Poli unternimmt einen Mordversuch an einem Giacomoni. Ein Schwurgericht verurteilt das Oberhaupt der Sippe der Poli zu einer Gefängnisstrafe. Die Beziehungen zwischen beiden Familien sinken auf den Nullpunkt, aber es dauert doch elf Jahre bis zur nächsten Katastrophe. Vier Menschen kommen dabei ums Leben, von jeder Familie zwei. Niemand weiß genau, wie die Schießerei ihren Anfang nahm, was letztlich der Grund dafür war.
Jetzt häufen sich die Mordanschläge. Die Einwohner von Sainte-Lucie wagen sich kaum mehr aus den Häusern, wenn die Nacht hereinbricht. Türen werden verbarrikadiert, Fenster verschanzt, die Gassen sind leer. Man ruft nach der Gendarmerie. Der Militärgouverneur von Korsika winkt ab, auch in anderen Dörfern der Insel herrsche Unsicherheit, überall müßte dann Polizei stationiert werden.
Vier Jahre hält dieser Zustand an, dann kommt es wieder zu einer Serie von Verbrechen. Im Januar 1834 werden in der Nähe von Sainte-Lucie zwei Angehörige der Familie Poli von Jacques Giacomoni, einem Sohn des Bürgermeisters, umgebracht. Er rächt sich damit für einen Doppelmord, den Poli an einem seiner Brüder und einem Vetter verübt hatte. Entsetzen und Ratlosigkeit unter den Dorfbewohnern: »Diese Vendetta muß ein Ende nehmen, sonst wird das ganze Dorf ausgerottet.«
Dank eines Vermittlers kommt eine Annäherung zwischen den verfeindeten Familien zustande: Im Dezember 1834 wird vor dem Notar von Sartène ein regelrechter Friedensvertrag unterschrieben. Eine Messe und ein Bankett beschließen den denkwürdigen Tag. Aber dieses Abkommen ist nicht mehr als ein Waffenstillstand, der wiederum nur knapp vier Jahre dauert. Um die Familien Poli und Giacomoni endgültig zu versöhnen, willigt der Bürgermeister ein, Pierre Poli, dem Sohn seines früheren Erzfeindes, die Hand seiner Nichte Serena zu geben. Serena ist eine berückende Schönheit, die schon manchem Burschen in Sainte-Lucie den Kopf verdreht hat. Aber auch Pierre kann sich sehen lassen. Eine Heirat zwischen Serena Giacomoni und Pierre Poli erscheint allen als Garantie einer endgültigen Versöhnung.
Aber die Liebesstrategie erreicht das gewünschte Ziel nicht, denn Pierre Poli liebt insgeheim ein anderes junges Mädchen, das in Levie, einer benachbarten Gemeinde, wohnt. Es kommt zum Skandal. Serena im prächtigen Brautkleid wartet vergeblich auf ihren Verlobten, der sie zum Altar führen soll. Auch die Kirchenglocken läuten den Bräutigam nicht herbei. Pierre hat sich am selben Tag nach Levie aufgemacht, um die heimliche Geliebte zu heiraten.
Er kommt freilich nicht weit: Jacques Giacomoni, der Sohn des Bürgermeisters, stellt ihm unterwegs einen Hinterhalt und bringt nicht nur den Abrünnigen Bräutigam um, sondern auch dessen Vetter, damit es keinen Tatzeugen gibt. Jacques Giacomoni ist nicht allein, als er seine Untat begeht, sondern in Begleitung eines Vetters, des zwanzigjährigen Antoine Santa-Lucia. Beide flüchten in die Macchia, die Polizei sucht sie, ohne Erfolg.
Im Dorf eine Mauer des Schweigens. Die Menschen handeln nach dem Grundsatz: nichts hören, nichts sehen, nichts sagen. Doch dann kommt Licht ins Dunkel der Greueltat. Mehr als fünfzig Leute belasten immer wieder einen Mann, der Jacques Giacomoni und Antoine Santa-Lucia geholfen haben soll: Es ist kaum zu glauben der Pfarrer. Er ist ein Bruder des flüchtigen Antoine. Der Pfarrer Jean Santa-Lucia wird vor ein Schwurgericht gestellt und zu zehn Jahren Zuchthaus verurteilt.
Doch der gesuchte Antoine Santa-Lucia ist nach wie vor auf freiem Fuß. In der Tasche trägt er ein Heft, in dem die Namen all jener stehen, die gegen seinen Bruder vor dem Schwurgericht ausgesagt haben. Jedesmal wenn er einen dieser Zeugen umgebracht hat, reißt er eine Seite aus dem Heft heraus und vertraut die Todesnachricht dem Wind an.
Die Polizei, die jetzt mit mehreren Dutzend Gendarmen nach dem Flüchtigen fahndet, ist unfähig, dem Blutvergießen Einhalt zu gebieten. »Perdonu un ci sarà chi decisu e trapassu« (Vergebung wird es nicht geben, der Tod aller ist beschlossen), schreibt Antoine an den Staatsanwalt.
Einige Morde sind besonders grausam. So sticht er einem siebzigjährigen Bauern die Augen aus und läßt ihn liegen, nachdem er ihm einen Zettel mit den Worten »So straft Santa-Lucia die falschen Zeugen« auf die Brust geheftet hat. Einen anderen erdolcht er, während er, als Frau verkleidet, mit ihm tanzt. Ein Arzt, der vor Antoine nach Ajaccio flieht, wird von einer Pistolenkugel ins Herz getroffen, als er einem »englischen Touristen« eine Auskunft erteilt.
Ein Zollbeamter, der die Tat beobachtet hat, will mit gezogenem Revolver dem Mörder den Weg versperren. Er wird überwältigt und seiner Waffe beraubt. Antoine schickt sie später dem Statthalter von Korsika zurück und schreibt dazu: »Entschuldigen Sie bitte, dass das Schicksal mich vom rechten Weg abgebracht hat. Hierbei mit meinen besten Empfehlungen die Waffe zurück.« Alle fünfzig Zeugen werden von ihm getötet, dann ward er nie mehr gesehen.
Jacques Giacomoni der zusammen mit Antoine die sitzengelassene Serena gerächt hatte wird 1848, zehn Jahre nach seiner Bluttat, von Gendarmen niedergeschossen. Es gibt allerdings auch das Gerücht, dass er sein Leben als Gesandter einer südamerikanischen Republik beschlossen haben soll.