Ausnahmesituation

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Schnelle Hilfe bei der Geburt

Komplikationen – kein Helfer in Sicht

Emergency-balus als letzter Ausweg

Pünktlich um zwei Uhr saß ich am Funkgerät und kam auch gleich als erste dran. Meine Gesprächspartnerin war zum Glück Fiona, eine australische Krankenschwester, eine echte Profifrau. Bei ihr hatte ich zwei Wochen in Yagaum gelebt und gelernt, nachdem unser doktaboi, der Krankenpfleger, davongelaufen war, weil ihn die Begesins nicht genügend mit Naturalien entlohnt hatten. Von Fiona hatte ich gelernt, Wunden zu versorgen, Injektionen zu geben, Leprakranke zu behandeln und Entbindungen durchzuführen. Sie hatte mir gezeigt, wie bei Schwangeren der Bauch abzutasten ist, um die Lage des Ungeborenen zu erkennen. Sogar einen Schmetterlingsverband hatte sie mich gelehrt, durch den ich Schnittwunden zusammenziehen konnte, um eine bessere Wundheilung zu gewährleisten. Denn „wir können jetzt nicht auch noch mit Wundennähen anfangen“. Sie war so alt wie ich und ihre Reife faszinierte mich. Geduldig hörte sie sich die Schilderung des Falles an. Nach geraumer Zeit hörte ich das gewohnte „I suggest you ...“. Ich sollte also durch intensive Massage des Unterleibs versuchen, künstliche Wehen zu erzeugen, dabei in der Folge vermehrt vorsichtig an der Nabelschnur ziehen, um so die Nachgeburt zu lösen.


„Versuche das ungefähr eine Stunde lang. Wenn du nichts erreichst, musst du ein ‚emergency-balus‘ bestellen.“ Das war so typisch für unsere Umgangssprache in Neu-Guinea: Emergency, also Notfall auf Englisch, balus, also Taube und zugleich Flugzeug in Pidgin. Ich landete leider beim Notfall-Flugzeug.


Mehr als eine Stunde bemühte ich mich, künstliche Wehen bei der armen Frau, die keinen Ton von sich gab, hervorzurufen. Zum Schluss war ich schweißgebadet. Nichts, ich erreichte nichts, die Nachgeburt bewegte sich keinen Deut. Obwohl ich mit meiner ganzen Körperkraft arbeitete, war ich doch gleichzeitig ängstlich, der Frau wehzutun.

Etwa um halb vier Uhr nachmittags wankte ich mit zitternden Beinen zum Funkgerät. „Foxtrott-Sierra“, (code für Begesin), „ruft Delta-Mike“, (code für MAF, die Mission Aviation Fellowship). Ich fühlte mich zutiefst ausgelaugt, wie eine Versagerin, hinzu kam diese unendliche Trauer über ein so junges Leben, das einfach erloschen war. Fiona informierte mich später, dass die Nachgeburt bei der Frau herausoperiert werden musste. Sie war an der Gebärmutterwand angewachsen gewesen. Aber da war ich schon bei anderen Problemen ...


Als ich am Abend beim Bügeln in der Küche stand, tauchte vage ein Gedanke in mir auf, schemenhaft zunächst, an den ich mich vorsichtig herantastete. Kurz nach sechs Uhr abends, die Vögel hatten gerade mit ihrem Ruf die kurze Abenddämmerung verkündet, wurde gewöhnlich von Michael der Generator angeworfen. Die ganze Station, also unser Haus, die Häuser der Lehrer und des Pastors, die Schulhäuser – alles wurde in helles Licht getaucht. Allerdings nur, wenn der Generator gerade intakt war, was allzu häufig nicht der Fall war. Kerzenlichtromantik? Dafür hatte ich zu dieser Zeit keinen Sinn und gerade war ich dabei, den Stromreichtum zu nützen.


Wieder drängte es aus meinem Hinterkopf nach vorne, ich zog mich ein wenig zurück, um mich im nächsten Moment dem Gedanken wieder anzunähern. Es half nichts, ich musste mich ihm stellen. „Macht irgendetwas, das ich heute getan habe, etwas in der Welt besser?“ Da war sie, die uralte Frage der Menschen. Müsste ich nicht glücklich sein, diesen schwierigen Tag so gemeistert zu haben? Ich hatte mit meinem Ruf nach einem Notfall-Flugzeug die richtige Entscheidung getroffen, das war unbestreitbar. Aber, hatte ich damit irgendetwas in dieser Welt verbessert?


Ich wollte so schmerzlich gerne eine gute Missionarsfrau sein, wollte gut sein für die Menschen, die mit mir zu tun hatten. Die Einheimischen hatten viele Missionare erlebt – und letztlich überlebt. Stellte sich für sie überhaupt die Frage, ob jemand „gut für sie“ war? Sie würden auch nach unserem Weggehen weiterleben, wahrscheinlich nicht besser, aber auch nicht schlechter. Sie mussten sich den wechselnden Gegebenheiten stellen, genau wie wir.


Für sie lief dieser Anpassungsprozess seit mindestens drei Generationen, für mich war alles hier fremd, Neuland. Die Kultur, die Sprache, das Klima, die Natur – neu, ungewohnt. Woher nahm ich den Anspruch, etwas im Leben dieser Menschen verbessern zu wollen, auch noch „gut für sie“ zu sein?


Erst vor einigen Wochen war Besuch von einem hohen Angestellten des Missionswerkes dagewesen. Er hatte selbst etliche Jahre auf einer Außenstation gelebt, seine hängenden Augenlider deutete ich als „gütig“. Nachdem ich stockend geäußert hatte, manchmal das Gefühl gehabt zu haben, in Deutschland boome das Leben, während ich hier im Busch in so jungen Jahren nichts davon mitbekäme, meinte der Mann mit den vermeintlich gütigen Augen: „Unter diesen Opfern ist die Mission groß geworden.“ Die Mission, groß? Wie geht das, fragte ich mich? Wollte ich ein Teil dieser Mission sein? Ich war so jung, so unerfahren, hatte so wenig Antworten auf die Fragen des Lebens. Nur Fragen türmten sich auf in mir – und sie bewirkten, dass ich mich am Ende des Tages völlig ratlos fühlte. Wieder einmal würde ich heute Abend zu Bett gehen mit der bangen Frage, was ich wohl falsch gemacht oder versäumt hatte.