Zauberei

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Unerklärliche Phänomene

Ist Zauberei stärker als Medizin?

Verwirrung durch das Hausmädchen

Am Morgen dieses Tages begab ich wie immer zum Waschhaus, um mit den Hausmädchen die anstehenden Aufgaben zu besprechen. Normalerweise waren sie um diese Zeit bereits an der Feuerstelle hinter dem Waschhaus beim Frühstück. Als ich keine der beiden sehen konnte, schlussfolgerte ich, ihnen stecke sicher noch die lange Nacht des Singsings in den Knochen und kehrte zum Haus zurück. Amos kam und wollte sein Frühstück, so dass wir eine Weile zusammensaßen. Danach machte er sich auf den Weg zum Waschhaus. Auch er konnte „seine“ Mädchen nicht finden und ich sah ihn vom Küchenfenster aus zum Mädchenhaus laufen. Es dauerte eine Weile, bis er wieder erschien und zu mir eilte. „Sisies ist arg krank“, rief er aufgeregt, „Du musst schnell zu ihr gehen!“ Ich eilte sofort hinüber ins Mädchenhaus, wo ich Sisies im Bett vorfand. Sie hatte Fieber, das war auch ohne Fieberthermometer offensichtlich. „Hast du vielleicht Malaria?“ fragte ich. Yagamar, die neben ihr hockte, erklärte mir für sie, es sei kein Fieber, nein, „sie will sterben“. Erbost fragte ich, wieso denn gleich vom Sterben die Rede sei, nur, weil hier jemand mit Fieber im Bett lag. Aber sie blieb beharrlich dabei, Sisies wolle sterben. Ich versuchte, durch Fragen die Art der Erkrankung herauszufinden, traf aber auf Unverständnis und bekam mürrische Antworten. Irgendwann wurde Yagamar meine Fragerei zu viel und sie platzte heraus: „Das kannst du sowieso nicht verstehen, das ist keine normale Krankheit, das ist Sanguma, Todeszauber!“ Durch meinen Körper ging ein Ruck. Da war sie wieder, diese lange unwirkliche Nacht; ich meinte, das Stampfen zu fühlen und die Gesänge zu hören. „Ein Pfeil hat sie bei dem Singsing getroffen!“, sagte Yagamar heftig. „Aber Yagamar“, versuchte ich zu erklären, „das waren keine echten Pfeile bei dem Singsing. Ich habe doch mit meinen eigenen Augen gesehen, dass die Männer nur so getan haben, als würden sie Pfeile abschießen“. Aber Yagamar blieb bei ihrer Sicht der Dinge und da ich keine Möglichkeit fand, ihr zu helfen, verließ ich das Mädchenhaus.


Beim Mittagessen erzählte ich Michael die Geschichte. Er reagierte überaus alarmiert und durch seine Reaktion schrillten auch in mir plötzlich die Alarmglocken. Sofort machte er sich auf den Weg zu Aisaip. Ungefähr eine Stunde später kamen beide und betraten das Mädchenhaus mit ernster Miene. So weit kannte ich die Regeln dieser Kultur inzwischen, dass mir klar war: ein Mann hätte niemals allein das Mädchenhaus betreten dürfen. Sie blieben lange im Mädchenhaus und Michael erklärte mir später, Aisaip habe Sisies genauestens befragt, wie, wann, und wodurch sie sich verzaubert gefühlt habe. Auch ihre Krankheitssymptome wollte er in allen Details wissen und, wie sie sich Hilfe vorstellen könne.

Schließlich kamen sie zu mir und erklärten, Sisies wolle mit Michael ein Abendmahl feiern, so könnte man ihr eventuell helfen. Aisaip erläuterte: „Das ist so bei uns, Sisies fühlt sich verzaubert, weil sie den Pfeil auf sich hatte zukommen sehen. Es ergibt überhaupt keinen Sinn, zu versuchen, ihr das auszureden. Sie würde dadurch nur ihr Vertrauen zu uns verlieren, aber sich immer noch für verzaubert halten. Also muss man sie ernstnehmen und ihre Wünsche befolgen. Das ist unsere einzige Möglichkeit, ihr vielleicht, vielleicht, zu helfen“. Noch am selben Abend begleitete ich Michael ins Mädchenhaus, wo er dem Wunsch des Mädchens folgend mit ihr ein Abendmahl feierte. Auf dem Weg zu unserem Haus meinte Michael: „Ich kann mir nicht helfen, aber irgendetwas sagt mir, dass die Sache noch nicht ausgestanden ist“. Er sollte leider Recht behalten.


Am nächsten Morgen fand ich Sisies immer noch mit Kopf- und Bauchschmerzen apathisch im Bett. Ich besprach mich mit Yagamar, und sie meinte, jetzt sei es an der Zeit, die Familie von Sisies zu benachrichtigen. Gleich wollte sie einen der Schuljungen, der aus dem Dorf von Sisies stammte, mit einer Botschaft losschicken. Dem konnte ich nur zustimmen, denn die ganze Sache wurde mir zunehmend unheimlicher. Nach zwei Tagen traf Sisies Familie auf der Station ein und zeigte sich vom Anblick ihrer grau zusammengefallenen Tochter sehr betroffen. Einen ganzen Abend brauchten sie dann offensichtlich, um eine erneute Lösungsmöglichkeit des Problems zu erarbeiten.


Den folgenden Morgen erklärten sie mir, ich solle Sisies an drei aufeinander folgenden Tagen jeweils eine Penicillinspritze geben. Da ich mir bewusst war, dass Einwände gegen diesen sicher vorgetragenen Beschluss nicht wirken würden, stimmte ich gelassen zu und tat, was von mir erwartet wurde. Ich gab Sisies ihre drei Spritzen, aber ihr Zustand verschlechterte sich trotzdem von Tag zu Tag. Als auch nach der dritten Spritze keinerlei Besserung zu verzeichnen war, nahm ihre Familie sie mit in ihr Dorf. Sie verabschiedeten sich traurig und mein Herz zog sich beim Anblick der mit ihrer Tragbahre davonziehenden Familie zusammen. Erst Wochen später erfuhren wir durch Aisaip, dass Sisies von ihrem Dorfzauberer einen Gegenzauber erhalten hatte und wieder wohlauf war. Es dauerte noch lange, bis ich in mir das Erlebte einigermaßen verarbeitet hatte und wieder etwas wie „Normalität“ einkehrte.