Höhepunkt
Deutliche Wahrnehmungsveränderung
Kurzzeittige Fassungslosigkeit
Keine Zeit zur Verarbeitung des Erlebten
Orkaps Gruppe war fertig mit Schminken. Die mitgebrachten Schilde wurden am Rücken eingesteckt, Kopfschmuck aus Kaurimuscheln und Kakadufedern wurde aufgesetzt und an die Oberarme lip tanget, Zauberblatt-Büschel gebunden. Orkap hatte durch seine Nasenscheidewand einen Keilerstoßzahn geführt und erschien mir dadurch noch unheimlicher. Seine Männer nahmen ihre kundus, Trommeln, in die Hand und formten einen Kreis. In unmittelbarer Nähe tat die andere Gruppe das gleiche. Kehlige Gesänge begannen, begleitet von rhythmischem Stampfen und Trommelschlägen. Wie gebannt schaute ich zu. Michael kam zu mir und erzählte, die andere Gruppe habe von Orkaps Singsingplänen auf der Station erfahren und beschlossen, in Konkurrenz zu ihm ein eigenes kaima, das Wort in der Begesinsprache für Todeszauber-Tanzfest, abzuhalten. Wie sie es in Erfahrung gebracht hatten, und warum sie eine Gegengruppe gebildet hatten, wusste sich niemand zu erklären. Ob ihnen klar war, dass er Orkap für das Singsing bezahlte und sie auch etwas haben wollten, oder ob reines Rivalitätsdenken sie bewegte er hatte keine Ahnung. Aber nun waren sie da, und Aisaip war höchst wachsam und wollte die Situation auf keinen Fall außer Kontrolle geraten lassen. Sicher war nur eines: die Gegengruppe hatte vor, Ernst zu machen. Sie hatte im Gegensatz zu Orkaps Gruppe die Vorbereitungen für ein kaima voll durchgezogen, hatte mindestens zwei Wochen im Busch gefastet, dabei täglich nur etwas Ingwer gekaut und rituelle Reinigungen vollzogen. Ziemlich entmutigt nahm ich diese hastig mitgeteilten Informationen zur Kenntnis, da sie doch meine düsteren Vorahnungen bestätigten.
Das Todeszauber-Tanzfest setzte sich fort. Es war unnötig, zu wissen, dass hier zwei rivalisierende Gruppen tanzten, denn das war nur zu deutlich spürbar. Die beiden fochten offensichtlich ihren ureigensten Kampf miteinander aus. Sie sangen und trommelten sich nebeneinander in Ekstase. Mittlerweile meinte ich, ein gespanntes Drahtseil zwischen ihnen zu sehen. Längst blickte ich nicht mehr voller Spannung auf die Gruppen, da eine bange Furcht mich ergriffen hatte. Das Stampfen erschien mir immer bedrohlicher, meine innere Anspannung war deutlich steigend spürbar. Genau versuchte ich, zu beobachten, was da im Einzelnen vor sich ging, fühlte jedoch gleichzeitig eine bleierne Müdigkeit. Ich fing mich wieder und sah Orkaps Gesicht in meinem Inneren und in der Realität vor mir. Pass auf, schrie es in mir! Dieser Mann ist nicht einfach irgendein Mann! Etwas Dumpfes hatte von mir Besitz ergriffen, meine Wahrnehmung schien gestört. Aus der Gegengruppe sah ich einen Mann, der wie ein Geschoss auf uns zukam. Auf Schultern und Fersen schnellte dieser Mann wie ein gespannter Bogen meterweit durch die Luft. Er sei durch das Fasten in Trance, meinten die Frauen neben mir. Er stieß seltsame Laute aus und hatte Schaum auf den Lippen. Fassungslos schauten wir Frauen uns das an, Blickkontakt untereinander war nicht mehr möglich, wir waren völlig gefangen im Geschehen. Kurz vor uns sank er in sich zusammen, einige Männer seiner Gruppe eilten herbei, nahmen ihm seinen Schild ab. Er blieb röchelnd liegen.
Das rhythmische Stampfen und Trommeln setzte sich fort, mir war, als geriete ich selbst in Trance. Die ganze Nacht über hämmerte dieses Trommeln, Stampfen und Singen auf mich ein. Die Gesänge wiederholten sich, wurden lauter, drängender. Michael filmte und filmte, er fotografierte und fotografierte. Aisaip eilte mit finsterem Gesicht zwischen den Gruppen hin und her. Urplötzlich, im Morgengrauen war das ganze spukhafte Geschehen vorbei. Ich konnte noch beobachten, wie aus beiden Gruppen Pfeile abgeschossen wurden in jede Himmelsrichtung, nicht wirklich abgeschossen, aber Pfeil und Bogen wurden vier Mal in eine Richtung gehalten. Es waren imaginäre Pfeile, wie mir später bewusst wurde. Ganz schnell, kaum wahrnehmbar, wurden die Schilde abgenommen und an einen Baum gelehnt. Die Zeremonie war vorüber; das Geschehene schien ganz plötzlich unwirklich. Vorbei, es war endlich vorbei.
Etwas unbeholfen stand ich auf. Nach der langen Nacht, die ich auf einer Bastmatte sitzend verbracht hatte, fühlte ich mich bleiern und steif. Ich verabschiedete mich von den Frauen und machte mich auf den Weg in die Wirklichkeit. Auf der Veranda begrüßten mich die Hunde mit wedelndem Schwanz. Ihr habt es richtig gemacht, sagte ich, ihr seid einfach abgehauen! Im Haus legte ich mein schlafendes Kind in sein Bett. Als Michael eintrat, stand der Kaffee bereits auf dem Tisch und wir versuchten gemeinsam, das Erlebte in Worte zu fassen und zu verstehen. Wir saßen lange zusammen, jeder trug seine Sicht des Geschehens bei, trotzdem habe ich bis heute nicht begriffen, was in dieser unwirklich scheinenden Nacht tatsächlich geschehen ist. Erst durch das Herantapsen unseres ausgeschlafenen Sohnes konnten wir dem Tag wieder etwas an Leichtigkeit abgewinnen. Wie trügerisch sie allerdings war, erfuhren wir erst zwei Tage später.