Fluß
Loire - wechselhaftes Wässerchen
Lauf des Fluß
Bedeutung damals und heute
In der französischen Mythologie verkörpert die Loire höchste Werte: Liebenswürdigkeit, Sanftmut und Zivilisation. Es wird also übersehen, dass sie zugleich einer der letzten wilden Ströme Europas ist, und einer der wechselhaftesten dazu. Sie ist nicht so reißend wie die Rhône, weniger windungsreich als die Seine, hält aber den Rekord in Größe und Ausdauer. Von Puy-en-Velay bis Nantes bringt sie tausend Kilometer Langstrecke hinter sich und nimmt auf diesem Lauf alles mit, was ihr in den Weg kommt: den Allier aus der Auvergne, den Beuvron, die Indre und den Cher aus dem Berry; die Vienne und die Maine tragen bei zum stetigen Wachstum dieser endlosen flüssigen Landstraße, die eine eigene Welt bewachsener Inselchen umspült. Mit einem solchen Lauf kann die Loire gar nichts anderes als ein Fluß der Wandlungen sein, zusammengestückelt aus allen Gestalten, die ein Strom annehmen kann.
Gleich nach Nevers hält die Loire den Atem an, wälzt sich in einem kilometerbreiten Bett zwischen Inseln und Nebenarmen, bevor der Allier in sie mündet. Die Klippen von Sancerrois schnüren sie ein, im Flußsand von Sologne breitet sie sich wieder aus, um sich auf der Höhe von Blois noch einmal durch eine Schlucht aus Kreidefelsen zu zwängen. Bei Anjou geht sie dann richtig in die Breite, wiegt sich in den Hüften und nimmt schließlich fünf und sogar acht Kilometer des Tals in Beschlag, wenn sie kein Engpaß erdrosselt. Die Loire hat die englischen Eroberer aufgehalten und die Auvergner vorangetrieben in die Weinberge von Angers und bis in nordfranzösische Kontore. Baudelaire sah sie in Grün, für Heredia war sie eine Blondine, für Jules Lemaître eindeutig blau und für La Fontaine klar wie ein Kristall ... wer also ist die Loire wirklich?
Das Gleichbleibende an der Loire ist ihre Unbeständigkeit. Ihr Wasserstand hängt ab vom Wetter im Zentralmassiv und schwankt schon in ruhigen Zeiten gewaltig. Im Winter entläßt sie 50 m3 pro Sekunde in den Ozean, im Frühjahr können es neuntausend sein. Die sanfte Loire wird wild rette sich wer kann ans Ufer! Nicht erstaunlich, dass die bis an den Rand beladenen Lastkähne, die zweitausend Jahre lang für den Wohlstand Orléans sorgten, hier mehr Schwierigkeiten hatten als anderswo. Seinerzeit hatte man flußaufwärts gegen den Westwind zu kämpfen und mußte sich bei der Abfahrt vor den Sandbänken in acht nehmen, während der Kiel die Untiefen beharkte. Unterhalt und Ausleuchtung der Fahrrinne wurden von den Wegzöllen bestritten, die an die Territorialherren am Ufer abzuführen waren; bald sorgten die Händler dafür, die den Fluß befuhren, später die zuständige Behörde »Ponts et Chaussées«. Kleine Boote wiesen den Konvois der dicken Pötte den Weg, und in den Wasserkutschen vermied, wer es sich leisten konnte, die Unannehmlichkeiten einer Überlandreise.
Nachdem die Menschen lange genug zugesehen hatten, wie die Gegend von Orléans und die Touraine alle zehn Jahre vom Hochwasser verwüstet wurden, kam der Wunsch auf, das Ungeheuer zu zähmen. Im Jahre 1856 wurden die Dammbauten unterstützt von rund knapp neunzig Rückhaltebecken, die sowohl die Frühjahrshochwasser als auch die winterliche Trockenheit lindern sollten. Aber die Gefahr bleibt: ein Jahrhunderthochwasser könnte auch heute noch zweihunderttausend Menschen um Haus, Hof oder auch Leben bringen. Folgerichtig haben die örtlichen Abgeordneten der Regierung einen Plan vorgelegt, das mittels vier neuer Staudämme den Fluß endgültig regulieren soll.
Aber wie so oft: die Anwohner sind hochbeglückt, während Grüne und Ökos aller Länder sich im Skandalgeschrei übertreffen. Diese Kreuzritter für eine naturbelassene Natur haben sich in der Vereinigung Loire Vivante zusammengeschlossen. Sie beschwören den Massenmord an einer überaus reichen Tierwelt zu der auch wieder der Lachs zählt, neben anderen Wanderfischen wie dem Aal und dem Neunauge die Verheerungen an den Uferpflanzen, die in einem in Europa einzigartigen tropischen Mikroklima gedeihen, die nicht wiedergutzumachenden Schädigungen der Wasservögel, Reiher, Knäkenten und Wasserhühner ... diese Leute sehen die ideale Lösung in einem Frühwarnsystem, mit dessen Hilfe die Anwohner rechtzeitig vor dem Hochwasser in Sicherheit gebracht werden könnten.
Das wird ein Spaß werden für die Hechte und die Enten, wenn sie die Dörfler in ihrer Brühe herumwaten sehen ... Bisher hat die grüne Blockade gewirkt und der Kampf ist nicht verloren, aber die Ministerien sind sich noch unschlüssig, ob sie diesen Mikrokosmos zu Lasten der ansässigen Bauern erhalten sollen, die sich mehr als jeder Spaziergänger oder Naturschützer abgemüht haben, um ihn mit Leben zu erfüllen. Man wird sich entscheiden müssen zwischen gewachsener Kulturlandschaft und den harten Forderungen örtlicher Gegebenheiten ...