Wertewandel

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Ein unbekanntes Gesicht, entstanden im Strudel der Zeit

Das Tempo der Veränderungen war in den wenigen Jahren so scharf, dass man sich
als Ausländer auf jeder neuen Reise wieder fremd fühlt. Spanien ist das Land
in der Welt, das überhaupt am besten dazu geeignet ist, unsere vorgefaßten Meinungen
zu korrigieren. Sollen wir angesichts des uns bei jedem Besuch erfassenden Strudels
darauf verzichten, verstehen zu wollen, und uns einfach von dieser stimulierenden
Kraft mitreißen lassen? Manchmal taucht blitzartig eine Strömung auf, die ganz
flüchtig einen Zug im Gesicht des neuen Spaniens zu skizzieren scheint, woraufhin
man sich auf eigene Gefahr dem spannenden Spiel der Prognosen hingibt.

Wagen wir eine erste Wette: man kann kaum falsch liegen mit der Behauptung,
dass die Spanier nicht dazu bereit sind, diese begeisterte Wiederentdeckung des
Körpers noch einmal rückgängig zu machen, der während der vorhergehenden Epoche
so sträflich behandelt, verhüllt oder unterdrückt worden war. Sehen Sie sich
einmal an, mit wieviel Genuß sie sich kulinarischen Freuden hingeben, wobei
sie sowohl aus ihrem eigenen Rezeptvorrat schöpfen wie auch aus der importierten
Küche ... Dabei passierte es dann, dass sie ihre Gerichte mit dem Eifer eines
Neulings ohne Überlegung mit Crème Fraîche überschütten! Der Sport besteht nicht
mehr nur aus Massenveranstaltungen im Stadion, sondern bedeutet für jeden einzelnen
Gesundheitspflege, Training, Anstrengung und Durchatmen: viele Familien haben
Gefallen daran gefunden, ihre Sonntage im Sommer in einem der Freibäder zu verbringen,
die am grünen Rand der Städte entstanden sind. Man wird sie sobald nicht daran
hindern können, genausowenig wie ihren König Juan Carlos daran, sich im Winter
zu den Skipisten von Baqueira und im Sommer ans Ruder einer Jacht vor der Küste
Mallorcas zu flüchten! Muß man hier die Sexualität hinzufügen, zu der die Spanier
- und Spanierinnen - nie ein ganz ungetrübtes Verhältnis hatten? Wetten wir,
dass die Mischung aus Besessenheit und Widerwille, deren Gegenstand er war, mit
der Zeit einer ruhigeren Akzeptanz dieser insgesamt absolut natürlichen Funktion
weichen wird. In dieser Hinsicht könnte ein Vorreiter, nämlich das zum Klassiker
aufgestiegene Geheime Wörterbuch, eine vom Akademiemitglied Camilo José Cela
zusammengestellte Fundgrube von Obszönitäten, die gegenwärtigen und kommenden
Generationen gegen die Qualen der Zurschaustellung und der zwangsläufig damit
verbundenen Schuldgefühle immunisiert haben. Aber, wer weiß?

Was wird aus einem heute weit verbreiteten Verhaltenszug, der viel über die
kontrastreichen Erfahrungen von Eltern, Kindern ... und Großeltern aussagt,
die sich zeitweise nahe stehen, sich aber in allem voneinander abheben? Ich
möchte von jener Kluft zwischen den Generationen reden, die eine gebrochene
Kontaktfähigkeit heutzutage auf Schritt und Tritt demonstriert. Alles scheint
die verschiedenen Altersstufen zu trennen, angefangen bei der Kleidung. Schauen
Sie sich beispielsweise einmal auf dem belebten Marktplatz eines galicischen
Fischerdorfes die traditionell schwarzgekleideten Großmütter an, daneben ihre
Töchter - nimmermüde Familienmütter - in ihren buntbedruckten Konfektionskleidern,
während ihre Enkelinnen sich in verwaschene Jeans zwängen oder die Kollektion
der neusten Importmode vorführen ... Beobachten Sie weiterhin einmal die Treffpunkte,
wo sich alle Altersklassen gesondert versammmeln, in einer mittleren Stadt wie
Toledo: die Jungen kleben in Trauben vor ihren Stammkneipen, die Eltern führen
ihre kleinen Kinder auf dem verlassenen paseo spazieren, während die Alten,
auf den Steinbänken des Zocodovers sitzend, Empfänge abhalten. Und erst die
Sprache! Um beim Kastilischen zu bleiben: jede Generation pflegt ihre eigene,
angefangen beim Jargon der jungen Leute, dem chelí, der für Cervantes unverständlicher
wäre als die algarabía, zu seiner Zeit von den Mauren gesprochen. Mit der Folge,
dass sich das zweisprachige Wörterbuch von Francisco Umbral, des talentierten
Chronisten der Madrider movida, zum Bestseller mauserte. Wer möchte darauf schwören,
dass die auf ihre Flugbahnen geworfenen Planeten der Generationen eines Tages
endlich zusammentreffen werden?

Das seltsamste Merkmal des lärmenden Spektakels, zu dem Spanien geworden ist,
ist vielleicht diese unnachahmliche Art, die Bejahung der Unterschiede mit einer
ungeheuren Vermischung von Identitäten zu verbinden. Das gilt manchmal für die
von Region zu Region unterschiedlich ausgeprägten Persönlichkeiten, die jedoch
nicht aufhören, ihr unbeugsames Wesen herauszuschreien; hören Sie sich nacheinander
ein katalanisches Publikum an, wie es das einschmeichelnde Vibrato in der Stimme
von Luis Llach zurückschallen läßt, einem der bedeutenden Schöpfer der nova
cançó, und ein madrilenisches Publikum, wie es ein Solokonzert von Joan Manuel
Serrat beklatscht, einem anderen Vertreter des katalanischen Lieds, der von
der Sprache von Jacint Verdaguer zu der von Antonio Machado überwechselt ...
und versuchen Sie zu verstehen! Hören Sie den Leuten beim Reden zu: durch alle
sozialen Schichten hindurch ist überall die förmliche Höflichkeitsform "usted"
plus dritte Person im Verschwinden begriffen, so dass Sie nicht darüber erstaunt
sein dürfen, wenn ein diensthabender Beamter Sie duzt. Es stimmt, dass das Beispiel
von ganz oben kommt, denn König Juan Carlos persönlich redet so seine Gesprächspartner
an ... Aber bitte nicht auf dieses Niederreißen der sozialen Schranken hereinfallen,
denn König bleibt König und der Beamte ein sich seiner Vorrechte bewußter Vertreter
des Staates! Wie kann man jedoch daran zweifeln, dass Spanien begeistert die
Darstellung von Unterschieden gewährt, darin inbegriffen die von Unterschieden,
die man dort einmal brutal abgelehnt hatte: nein, Sie sind nicht Opfer einer
Sinnestäuschung, wenn Sie gerade Araber sehen, die im Patio der Orangerien von
Córdoba ihre Gebete verrichten, oder wenn Sie frommen Juden begegnen, die sich
ein koscheres Mahl in einem Restaurant in Toledo servieren lassen, an dessen
Fassade der Davidstern steckt ... Sie werden sagen, dass zweifellos die Gewinne
durch den Fremdenverkehr auch dort nicht unbekannt sind, und warum soll man
das Kolorit ablehnen, das ein wiederbelebtes Schauspiel bringt? Gewiß - und
wenn das Verlangen nach dem Schauspiel nun die ersten Schritte auf dem Weg zur
Toleranz darstellt?