Vergötterte Kinder
Vom Kind als König zu den zornigen jungen Leuten
Sollten sie also plötzlich ihren Nachwuchs - und den der anderen - nicht länger
mit einer leidenschaftlichen, abgöttischen Liebe überschütten? Natürlich nicht,
das springt einem doch ins Auge. Falls Sie selbst Eltern von kleinen Kindern
sind, werden Sie sofort diese Erfahrung machen, denn dieselben Bambini, die
bei uns von den Hotelbesitzern von allem ausgeschlossen und mit Verboten überhäuft
werden, können erleben, wie ihnen von Hausmeistern und Zimmermädchen in Spanien
alles erlaubt wird. Spanien bleibt das Land, wo Kinder König sind. In noch so
kleinen Dörfern wird durch die Einrichtung von Spielplätzen mit Schaukeln und
Rutschbahnen an sie gedacht. Gewalt wird als unerträglich empfunden, wenn sie
Kinder betrifft: in welchem anderen Land hätte man eine spontane Demonstration
gegen die Entführung eines kleinen Mädchens erlebt, wie dies 1987 in Málaga
der Fall war? Dieser Kinderkult kennt auch seine speziellen Feste, von denen
das wichtigste hier nicht Weihnachten, sondern das Dreikönigsfest ist. Man muß
ihn gesehen haben, an den Tagen vor dem Fest, diesen Zug der von ihren Eltern
begleiteten Kinder, die darauf brennen, einen der drei Weisen umarmen zu können.
Der thront auf seinem Podium, das mit Unterstützung irgendeines namhaften Geschäfts
mitten auf der Straße aufgebaut wurde! Zu Hause ist das Zeremoniell nicht weniger
beeindruckend: in Katalonien beispielsweise gibt es den Brauch, für Kaspar,
Melchior und Balthasar drei Gläser hinzustellen sowie eine Ladung Futter für
ihre Pferde. Nach Anbruch der Nacht versucht man mit Flüstern und Geräuschen
von Schritten in den Fluren die Kleinen, die kaum ein Auge zutun, von der Durchreise
der erwarteten Gäste zu überzeugen, ohne dass sie darauf hereinfallen. Am frühen
Morgen springen die Kinder aus dem Bett und stürmen zu ihren Geschenken. Diese
Herrschaft der Kinder sorgt für die Glut im Blick der kleinen Ana Torrent, dessen
Reinheit wie die des Feuers die feige Welt der Erwachsenen durchdringt, in jenen
wundervollen Filmen Cria cuervos ... (Züchte Raben ...) und Espíritu de la colmena
(Geist des Bienenstocks).
Die Liebe zu den Kindern ist zwar nicht verschwunden, hat sich aber eine andere
Färbung angenommen. Sie erkennt sich nicht mehr in der verschwenderischen Fortpflanzung
wieder, in dieser Entstehung warmen Lebens, das den gegenwärtigen Moment mit
einer Überfülle von Zärtlichkeit überhäuft. Jetzt wandelte sich das Kind zur
Verkörperung einer verschobenen Zukunft geworden, mit enttäuschten Hoffnungen
versehen, für die es Rache nehmen wird, und mit verdrängten Wünschen, nach deren
Erfüllung es strebt. Die Liebe zum Kind ist nicht länger unmittelbare Wärme,
sondern ein Zukunftsprojekt, das geplant werden will. Die Volksweisheit hat
sich rasch davon überzeugen lassen, wobei sie jene Hausmeisterin als Sprachrohr
benutzt, die unsere Besichtigung einer berühmten Sehenswürdigkeit mit den Worten
kommentierte: »Wozu ist es gut, viele Gören zu haben, wenn es nur dazu geschieht,
dass sie unter Entbehrungen aufwachsen? Es ist besser, nur wenige zu haben, um
sie ordentlich aufziehen zu können«!
Dieser neue Ehrgeiz steckt voller bislang unbekannter Fallen. Wir sind daran
gewöhnt, aber für die Spanier wird die Entdekkung schockierend gewesen sein.
Wenn die kurzen Jahre, in denen das Kind noch klein ist, wie ein wacher Traum
verflogen sind, beginnen die Schwierigkeiten mit dem Hindernislauf, den die
Eroberung der Bildung gezwungenermaßen darstellt. Die Mängel des spanischen
Erziehungssystems, die nur langsam beseitigt werden, sind nicht gerade dazu
geeignet, den Schwierigkeiten abzuhelfen. Die Flut der Einschulungen überschwemmte
die baufälligen und unsicheren Gebäude geradezu, ob es sich nun um die weiterführenden
Schulen der EGB handelt - wo allgemeines Grundwissen vermittelt wird - oder
um die Einrichtungen des BUP (Bachillerato unificado polivalente), die schon
zwei Drittel der Jugendlichen zwischen vierzehn und achtzehn Jahren aufnehmen.
Die schlechte Betreuung, Folge des Lehrermangels, wird von der Kompliziertheit
der Leistungsbewertung noch verschlimmert: jedes Fach muß gesondert bestanden
werden, was den Schüler oft dazu verdammt, die Last einer asignatura pendiente
zu tragen, bei der er versagt hat, und das unter den besorgten Blicken der Eltern.
Die Aufnahme an die Universität stellt ein letztes Hindernis dar, denn die
Klasse des COU (Curso de orientación universitaria) führt nicht zu einem Abschluß,
der den Zugang dorthin verschafft, wie unser gutes altes Abitur. Man muß sich
also zur Voraussetzung für die Einschreibung an der Universität den Auswahlverfahren
unterwerfen, deren Inhalte eher ungewiß sind ... Der Druck, der derart auf die
jungen Leute, zahlreicher denn je, zu Ende ihrer Schullaufbahn ausgeübt wird,
führte 1987 zu einem heftigen Ausbruch, der sämtliche Schüler auf die Beine
brachte: zu Themen wie der Ablehnung des Ausleseverfahrens und der Senkung der
Einschreibgebühren. Die Dauerhaftigkeit der Bewegung und die Bitterkeit, mit
der sie geführt wurde, deckte die Spannung zwischen dem Verlangen nach Gleichbehandlung
von Seiten der Jugendlichen und der Forderung nach Vernunft von Seiten der Erwachsenenwelt
auf, zu deren Fürsprecher sich die sozialistische Regierung auf die Gefahr der
Unbeliebtheit hin gemachte hatte.