Männlichkeit

Body: 

Jedem sein Spanien - Qual der Wahl

Das männliche Universum - ein belagertes Reich

Die Madrider movida, die soviel von sich reden machte, ist nicht mehr als der
Schaum auf tiefergehenden Wellen, deren Wirbel in wenigen Jahren die Fundamente
einer bis dato so über die Massen traditionsverhafteten Gesellschaft unterspülten.
Die Spanier benötigter weniger als eine Generation, um eine völlige Umgestaltung
ihrer Werte und Lebensart zu erfahren, die sich in Mitteleuropa über einen Zeitraum
von wenigstens fünfzig Jahren hingezogen hatte. De prisa, de prisa! (Schnell,
schnell!): der Titel des Films, in dem Carlos Saura den Taumel junger, willenloser
Herumtreiber darstellt, bringt das schwindelerregende Wirbeln der Sitten gut
zum Ausdruck. Kein anderes Land in Europa erlebte eine so radikale Kulturrevolution,
die im Wirtschaftsboom des desarrollo und im aufblitzenden demokratischen »Übergang«
ihren Niederschlag findet. Selbst für Spanier ist ihr Land nicht wiederzuerkennen
- wie soll es uns dann erst ergehen!

Das männliche Universum - ein belagertes Reich

Der Schock war heftig für die an eine Alleinherrschaft gewöhnten Männer. Die
Werbefachleute haben sich dabei nicht getäuscht: verschwunden sind die Plakate,
auf denen man einen strahlenden Mann sehen konnte, der sich eine copa de coñac
»Soberano« von einer freundlichen Frau servieren ließ, die im Brustton der Überzeugung
erklärte: »Es cosa de hombres«. »Das ist Männersache«. Welcher Regierungschef
würde es heutzutage wagen, seine Mannschaft dem Land zu präsentieren und dabei
die Worte des Diktators Primo de Rivera zu wiederholen, die dieser in einer
ähnlichen Situation gebrauchte: »Es handelt sich um eine Männerbewegung«? Nicht
ein militanter Revolutionär von den wenigen, die überhaupt noch übriggeblieben,
verfiele auf den Gedanken, sich von dem vom Anarchisten Ferrer 1909 verfaßten
Traktat inspirieren zu lassen, in dem zu lesen stand: »Kameraden, wenn Ihr Männer
seid, hört zu! Dieser Männlichkeitskult, vor kurzem noch so beständig, erscheint
heute so weit entfernt wie der Zauberkult aus vorgeschichtlicher Zeit. Nur mit
Mühe finden sich in der Umgangssprache einige versteinerte Überreste eines früher
so augenscheinlichen Vorrangs - wie das Beispiel mit dem kleinen Mädchen, das
auf der Straße seine Spielgefährtin herbeiruft, indem es ihr ohne darüber nachzudenken
das Wort »Hombre! entgegenschleudert. Eine schwache Spur aus einer Zeit, in
der jemand Mann sein mußte, um zu sein ...«

Beim Durchblättern der Magazine springen einem noch andere Bilder ins Auge:
Whiskymarken (die Spanier sprechen und schreiben manchmal güisqui, so gründlich
machten sie sich dieses Symbol der Euphorie und des Erfolges schon zu eigen)
wetteifern darin, uns Paare und Gruppen beider Geschlechter zu zeigen, die ihr
Glas erheben und auf die Gleichheit in der Wiederversöhnung trinken. In der
Werbung für Männermode nehmen die lockeren, jugendlichen Typen stark zu, die
dann mit lässiger Haltung legere Kleidung tragen und so den ungewissen Narzißmus
einer schwer zu ertragenden Männlichkeit widerspiegeln. Mit Sicherheit wagt
der spanische Macho, so er noch existiert, nicht, das auch auszuleben; geschah
es nur aus Steuergründen und um dem Neid zu entgehen, der durch seinen Erfolg
hervorgerufen wurde, dass ein reifender Verführer wie Julio Iglesias, Prototyp
des latin lover, das Exil unter der karibischen Sonne wählte, auf die Gefahr
hin, dass die immer noch zahlreichen Anhängerinnen des ewig Männlichen völlig
konsterniert zurückgelassen werden?

Hüten wir uns jedoch vor der Naivität und lassen wir uns nicht durch Äußerlichkeiten
täuschen. Die Männerherrschaft ist nicht wie durch Zauber aus der spanischen
Gesellschaft verschwunden. Schauen wir uns doch einmal die Machtzentren an,
ob sie nun politischer, wirtschaftlicher oder geistlicher Art sind: die Männer
sind unter sich in der Regierung, in den Verwaltungsräten - mit nur äußerst
wenigen Ausnahmen - und natürlich in der Versammlung des Episkopats, auch forthin
eine Autorität, mit der man rechnen muß. Von den Kasernen und Offizieren, die
bis vor kurzem noch so deutlich auf der Geschichte des Landes lasteten, einmal
ganz zu schweigen! Und läuft es anders bei den bedeutenden, die Massen mobilisierenden,
Spielvereinigungen wie den Fußballklubs oder im mundillo des Stierkampfs? Mit
Sicherheit nicht. Um es kurz zu machen: die tonangebenden Eckpfeiler der Gesellschaft
besetzt auch weiterhin fast ausschließlich das starke Geschlecht. Das Neue daran
ist nur, dass es sich in einer Verteidigungsstellung fühlt. Die Männerherrschaft
überlebt sich selbst, aber so wie ein belagertes Reich, das an seiner Macht
zweifelt.

Im täglichen Leben bringt das männliche Verhalten diesen Riß im unlängst noch
unbestrittenen, starken Einfluß zum Ausdruck. Dieses neue Klima verleiht manchmal
der männlichen Gesellschaft, die noch stark verwurzelt ist, den Anschein eines
Geheimbunds. So setzen sich die freundschaftlichen Riten einer männlichen Verbrüderung
fort: während sich Männer bei uns auf das unpersönliche Händeschütteln beschränken,
um ihre Freundschaft zu zeigen, feiern die Spanier ihre Begegnung, indem sie
sich mit einem herzlichen abrazo umarmen, was durch mehrfaches Klopfen auf den
Rücken unterstrichen wird. Jeder muß wissen, dass er von dem Tag an, da er mit
diesem Ritterschlag bedacht wird, dazugehört. Nur mal einmal auf die Gruppen
junger Burschen auf der Straße achten, die vorübergehen und dabei einander den
Arm um die Schulter legen. Zwischen Männern derselben Generation funktioniert
der Freundeskreis wie eine Bruderschaft, zusammengeschweißt durch gemeinsame
Neigungen und eine Gruppensolidarität, die oft durch tägliche Treffen gepflegt
wird. Jeder besitzt soviel Geschick, sich diskret, egal womit er gerade beschäftigt
ist, ohne Vorwarnung dünne zu machen, um zur Vertrautheit der kleinen Clique
zu stoßen, zur pandilla. Diese Versammlungen finden an auserwählten Orten statt:
baufällige Kasinos werden noch von schwankenden Greisen heimgesucht, tertulias
sind um denselben Tisch im Café versammelt. Ihre Gespräche drehen sich um die
gleichen Interessensgebiete - Politik, Sport, Literatur ... Und die meisten
besuchen vor allem die allgegenwärtigen Bars, die jeden Abend zum Leben erwachen:
durch den Klang der Stimmen, das Gelächter und die Witze um die Theke herum,
in der wiedergefundenen Wärme der männlichen Gemeinschaft.

Hinterhältigerweise wird dieses Ritual jedoch weniger einstimmig, weniger sicher.
Einst undenkbar, kommt es heute vor, dass sich einige Frauen daruntermischen,
Kolleginnen aus dem Büro, aus dem Hörsaal oder sogar aus der Werkstatt ... Manche
verstehen es, sich auf die Männer einzustellen, um dort akzeptiert zu werden.
Während sich diese Spähtrupps des anderen Geschlechts in die männliche Festung
einschleichen, verlassen diese immer mehr Männer auf mehr oder weniger sichtbare
Weise. Anstatt unter Freunden auszugehen, gewöhnen sich einige an, als Pärchen
die Bar zu verlassen; Mädchen und Jungen, Seite an Seite im lebhaften Betrieb
der Bars, setzen sich zu mehreren parejas an den Tisch, um mariscos zu schälen
und sich an Fisch a la plancha gütlich zu tun. Es gibt andere Überläufer, deren
Treffen in ihren Lieblingseinrichtungen nichts mehr mit dem männlichen Gesellenverein
zu tun haben: in Madrid, Barcelona und anderen Großstädten verfügen die Homosexuellentreffs
über eigene Häuser, ein offensichtliches Zeichen für die Liberalisierung der
Sitten. Die Zeiten, da ein García Lorca in die Dunkelheit und das Ghetto verstoßen
wurde, sind vorbei, und erst recht die der puritanischen Strafverfolgung während
der Ära Franco. Homosexuelle sind zwar noch der Verachtung ausgesetzt - es gibt
kaum eine schlimmere Beleidigung, als mit maricón! tituliert zu werden - besuchen
aber ohne jeden Komplex die Schwulendiscos, lesen ihre einschlägige Presse und
gehen sogar soweit, sich bei Volksveranstaltungen öffentlich zu zeigen, wie
bei der berühmten Wallfahrt von Rocío, im Delta des Guadalquivir! Aber der Extremfall
ist der jener Expriester des männlichen Standes, der Transvestiten und Transsexuellen,
von denen einer - oder vielmehr eine - eine früher undenkbare Popularität erreichte:
Bibi Andersen - natürlich ein Pseudonym - ist eine wundervolle Gestalt von einem
Meter dreiundachtzig, mit einem betörenden Dekolleté, die sich in Stöckelschuhen
wohlfühlt und ohne sichtbare Emotionen von ihrem ehemaligen Leben als kräftiger
andalusischer Bursche berichtet. Nun findet ihr Erfolg aber nicht im Verborgenen
statt, denn ihre Shows werden von der ganzen Familie begeistert aufgenommen
und die Kritik begrüßt ihre Darstellung der Femme fatale in mehreren beachtlichen
Filmen, wie z.B. La noche más bella von Manuel Gutiérrez Aragón. Sie glauben
zu träumen? Aber nein - Sie befinden sich bloß im Spanien der Neuzeit.