Sozialisten

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Die Sozialisten auf dem Prüfstand

Zwischen 1975 und 1982 zog der sprunghafte politische »Übergang« verständlicherweise
die Aufmerksamkeit der Politiker und des kleinen Mannes auf der Straße in seinen
Bann. Spanien hatte sich aber währenddessen auch mit einer anderen Herausforderung
auseinanderzusetzen, die sich übrigens an die Gemeinschaft aller Nationen richtete:
die sich ab 1973-1974 abzeichnende Wirtschaftskrise hatte schon vor dem Tode
Francos die Erfolgsschiene des »spanischen Wunders« der sechziger Jahre unterbrochen.
Den Wachstumsrausch hatte eine endlos lange Sackgasse abgelöst - für eine noch
so zerbrechliche Demokratie eine scharfe Warnung, zur Wirklichkeit zurückzukehren.

Die Ironie der Geschichte wollte (wieder mal!), dass es den Sozialisten zufiel,
ihre ersten Sporen an der Macht - an der sie bislang nur während der
Bürgerkriegstragödie teilhatten - in einer Gesellschaft zu verdienen, die durch den
Schock einer Krise heftig erschüttert war. Bei den Parlamentswahlen von 1982
verschafft in der Tat die Masse der Wähler den jungen Verantwortlichen der alten
»Partido Socialista Obrero Español«, gegründet vom gestrengen Pablo Iglesias, eine
komfortable Mehrheit. Um die Wahrheit zu sagen, hat sich die PSOE von 1982, durch
die Umstände begünstigt, so stark verändert, dass sie fast nicht wiederzuerkennen
ist.

Ihren überraschenden Erfolg verdankt die PSOE in gewissem Umfang allerdings
auch den Krisen, die ihre politischen Gegner zermürben. Zu ihrer Linken werden
die Kommunisten der PCE, nachdem sie am Ende der Ära Franco die wirkungsvolle
Avantgarde der demokratischen Opposition gebildet hatten, von einer Identitätskrise
geschüttelt, die alle kommunistischen Parteien im Westen heimsucht. Fortwährende
Risse spalten sie; selbst der mit allen Wassern gewaschene Santiago Carrillo
gerät auf Wege der Abtrünnigkeit, nachdem er eine Zeit lang ein vielbeachteter
Verfechter des Eurokommunismus war. Die nicht weniger zerrissene Rechte wird
für lange Zeit unfähig, die Macht zu übernehmen, da sie gewohnt war, diese alleine
auszuüben. Obwohl er aufopferungsvoll kämpft, gelingt es dem aufbrausenden Manuel
Fraga Iribarne, ehemals Minister unter Franco, nicht, für das von ihm geführte
heterogene Bündnis - die Alianza Popular - mehr als ein Viertel der Wählerstimmen
zu gewinnen. Von den Seinen verraten, beginnt Adolfo Suárez - durch Gnade des
Königs »der Herzog« geworden - eine lange politische Talfahrt, in der Hoffnung,
dass seine Zentrumspartei eines Tages eine politische Zuflucht bilden würde.
Die Sozialisten heimsen auf diese Weise sowohl die Stimmen der vom Kommunismus
Enttäuschten als auch die von der gemäßigten Rechten Enttäuschten ein und können
sich gleichzeitig die Sympathien der vielgestaltigen, vom desarrollo hervorgebrachten,
Mittelschicht sichern. Die jüngere Generation erkennt sich in ihrem charismatischen
Führer Felipe González wieder, den der König an die Regierungsspitze beruft.
Welch einen Weg hat dieser junge Rechtsanwalt aus Sevilla - er hatte sich unter
dem Namen Isidoro versteckt gehalten - hinter sich gebracht seit jenem Tag im
Jahre 1974, an dem er sich beim Kongress in Suresnes (Frankreich) an die Spitze
einer zu diesem Zeitpunkt kraftlosen Partei setzte! Der Regierungschef behielt
sich die bedeutenden politischen Entscheidungen selbst vor, die häufiger von
Pragmatismus als von der Ideologie bestimmt waren, und hat sich stets überzeugend
gegeben, mit einer wirklichen Fähigkeit zur Verständigung. Selbstsicher hat
er die Verantwortung unter Ministern aufgeteilt, die dabei manchmal der Unbeliebtheit
ausgesetzt waren, und ließ seinen Mitstreiter Alfonso Guerra sein zynisches
Talent entfalten.

Mit der stetig schwellenden Woge der Arbeitslosigkeit konfrontiert, mußte die
sozialistische Regierung feststellen, dass diese schwieriger als vorgestellt
einzudämmen war. Ihr 1982 unvorsichtigerweise geäußertes Wahlversprechen, achthunderttausend
neue Arbeitsplätze zu schaffen, wird ihr wohl oft genug vorgeworfen worden sein.
Der 1982 erreichten Spitze von zwei Millionen Arbeitslosen folgte eine stetige
Zunahme, die sich erst 1985 etwas verlangsamte. Ein an Vollbeschäftigung gewöhntes
Spanien lernte mit einer der höchsten Arbeitslosenraten - lange Zeit über 20
% - zu leben. Lösungswege stellten sich als unsicher heraus. Trotz Beschäftigungsprogrammen
formieren sich in größeren ländlichen Marktflecken jeden Tag aufs neue Gruppen
von Männern, die mit hängenden Schultern warten ... In manchen Arbeitervierteln
breitet sich die Armut aus, und die massive Rückkehr des Bettlertums in den
Großstädten springt jedem Besucher ins Auge. Weniger offenkundig ist die Entwicklung
einer »Untergrund«- oder »Schattenwirtschaft«: in der Bauindustrie, im Hotel-
und Gaststättengewerbe, aber auch in der katalanischen Textilindustrie sowie
in der Schuhindustrie Valencias umfaßt die Schwarzarbeit schätzungsweise ein
Viertel bzw. sogar die Hälfte der Beschäftigten.

Angesichts der Ausdehnung dieses Übels entschloß sich die Regierung zu einer
operativen Lösung, die für die betroffenen Arbeiter nur schwer zu ertragen ist.
Die Politik der industriellen Umstrukturierung führte über die Schließung unrentabler
oder rückständiger Betriebe, was schwerwiegenden Arbeitsplatzabbau nach sich
zog. Dabei sind Eisenindustrie und Schiffbau am härtesten betroffen. Die Industriestandorte
waren bisweilen Schauplatz von Verzweiflungsszenen, die z.T. an Aufruhr grenzten,
wie etwa in Sagunto, einer Küstenstadt in Valencia, und in der Kleinstadt Reinosa,
in den Bergen von Santander. Öffentliche Kredite wurden, anstatt untergehenden
Wirtschaftsbereichen wieder auf die Beine zu helfen, eher »bevorzugten Gebieten«
der Reindustrialisierung zugewiesen, in denen neue Niederlassungen gefördert
werden. Kurzfristig ist das zwar weniger sichtbar, inzwischen lassen sich aber
doch erste Ergebnisse feststellen. Ein neues leistungsfähigeres industrielles
Gefüge hat das Wachstum wieder deutlich Tritt fassen lassen. Die Landwirtschaft
erfährt ihrerseits eine beschleunigte Modernisierung, vor allem dank Fortschritten
in der Bewässerung, was im Jahresdurchschnitt 60.000 Hektar Land zugute kommt.
Auch dort geht die Angelegenheit nicht reibungslos vonstatten: man denke nur
an die Bewohnern des Dorfes Riaño, in den Bergen bei León, die umgesiedelt werden
mußten, um dort ein großes Stauwerk zu errichten ...

Mit ihrer Politik, die nicht gerade den Weg des geringsten Widerstands geht,
hat die Regierung Mühe, Zustimmung in der Arbeiterschaft zu ernten, ihrer natürlichen
Stütze. Dabei wendet eine strenge Lohnpolitik die Dinge auch nicht gerade zum
Besseren. Die Bande zwischen den Sozialisten an der Macht und der UGT, der eng
mit ihnen verbundenen Gewerkschaftszentrale, könnten auf diese Weise zum Ehekrach
ausarten. Man kann sich leicht vorstellen, dass der lachende Dritte - die Arbeiterkommissionen,
letzte von den Kommunisten kontrollierte Bastion - darin für sich eine Gelegenheit
sieht, seine Anhänger zurückzugewinnen. Felipe González hat seine Gewandtheit
und Überzeugungskraft bitter nötig, um ein weiteres Abbröckeln seiner Beliebtheit
zu verhindern.

Während der lange Weg wirtschaftlicher Modernisierung mit Ergebnissen auf sich
warten ließ, bestimmte eine sich zuspitzende Baskenfrage das politische Leben.
Jenseits des erbarmungslosen Duells, in dem sich die Kräfte der Ordnung und
der blinde Terrorismus der ETA gegenüberstehen, kann eine gefestigte Autonomie
Vorurteile abbauen helfen und mit der Zeit die Wunden vernarben lassen. Die
Mannschaft des Felipe González schaffte es jedenfalls, in einem hartnäckig wolkenverhangenen
Himmel neue Perspektiven zu eröffnen. Das Ergebnis langjähriger, mühevoller
Verhandlungen besiegelte 1985 der heißersehnte Beitritt Spaniens zur EG. Aber
dadurch, dass Spanien sich Europa gegenüber öffnet, nach der langen durch Francos
Mißtrauen bedingten Isolierung, wird nicht nur ein symbolischer Akt vollzogen.
So verzichtet das Land auf seine Schutzzollpolitik, die einer noch jungen, empfindlichen
Wirtschaft Rückendeckung verschaffte. In der Hoffnung, auf die europäische Hilfe
zählen zu können, um den Problemen in den Krisenregionen beizukommen, unterwirft
man sich für die folgenden Jahre einer Bewährungsprobe. Damit geht es um nichts
Geringeres als die Mobilisierung aller Kräfte einer im Umbruch begriffenen Wirtschaft,
um diese in die Lage zu versetzten, ihren Platz in einem einigen Europa zu finden.
Herausforderung, Zwang, Hoffnung: Europa verleiht den täglichen Bemühungen der
zum Jahr 2000 blickenden Spanier einen Sinn.

Über die schweren wirtschaftlichen Probleme sowie die umstrittenen politischen
Entscheidungen wurde seit 1975 in einer ständig auf der Lauer liegenden Öffentlichkeit
heiß diskutiert. Eine lebendige und niveauvolle Presse trug gewaltig dazu bei.
Es gibt dort noch Blätter von früher, etwa die konservative Tageszeitung ABC,
und gleich daneben eine Neugründung wie El País, bezeichnenderweise 1975 zum
ersten Mal erschienen, die sich wegen ihrer offenen und unbeugsamen Berichterstattung
durchsetzen konnte. Beim Durchblättern entdeckt man in ihr auch die fieberhafte
Chronik jener fantastischen Bewegung, die mit einem einzigen Schwung Gesellschaft,
Kultur und Kunst mitriß. Diese Bewegung, die movida, bot eine Zeit lang ein
in tausend Lichter getauchtes Schauspiel. Welch gewaltiger Schritt vom Movimiento
zur movida!