Rasante Entwicklung

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Spanien zur Zeit des »desarrollo«

Geschah es mit Absicht oder ohne sein Wissen, als Franco die wirtschaftliche
Veränderung eines zurückgebliebenen Landes förderte, das in der alten Gewohnheit
der Unterentwicklung stekkengeblieben war? Jedenfalls ergriff eine beispiellose
Umwälzung die spanische Wirtschaft mit seiner Unterstützung vom Ende der fünfziger
Jahre an bis zum Beginn der weltweiten Krise von 1973. Das Spanien aus der Zeit
der Kreuzzüge ruft den "desarrollo" ins Leben, eine wirtschaftliche Entwicklung,
die in den sechziger Jahren unter geistiger Führung des Opus Dei zum Zauberwort
avancierte. Die Köpfe des Opus Dei sind von Unternehmungsgeist und Leistungskult
beseelt und sehen das alleinige Heil in einem beschleunigten Wachstum. Innerhalb
von rund fünfzehn Jahren erfüllen sich ihre Erwartungen, unterstützt von einer
günstigen internationalen Wirtschaftslage. Nach dem Tode des Caudillo im Jahre
1975 ist Spanien nicht wiederzuerkennen, anscheinend ohne dass der gesundheitlich
angeschlagene Greis sich der Veränderung, die er ausgelöst hatte, bewußt gewesen
wäre.

Die mehrfach gescheiterte industrielle Revolution vollzieht sich in Rekordzeit.
Der Aufschwung kommt durch ausländische Investoren zustande, die mit offenen
Armen empfangen werden. Die multinationalen Konzerne aus den USA, Deutschland,
der Schweiz und Frankreich finden in Spanien ein neues Eldorado. Auf diese Weise
entsteht vor allem eine aktive Automobilindustrie: schon 1953 unterstützt Fiat
die Eröffnung der Seat-Werke bei Barcelona - vor geraumer Zeit von VW übernommen
- und Renault siedelt die FASA in Valladolid an. Bald darauf ziehen Citroën
in Vigo sowie weitere Firmen nach. Ähnlich verläuft die Entwicklung von der
chemischen Industrie über die Elektronik bis hin zur Nahrungsmittelindustrie,
wo Nestlé und vor allem Coca Cola ein ungeheurer Durchbruch gelingt. Einst nur
in einigen wenigen Gegenden vertreten, gründet die Industrie nun Niederlassungen
an zahlreichen Orten. So ersetzt ein neuer Industriestaat das alte Agrarland
Spanien.

All das geschieht zum Preis einer Verschiebung bzw. sogar Umstrukturierung
der Bevölkerung. Während sich die ländlichen Gebiete vor allem in Kastilien
und Aragonien leeren, geraten die Landflüchtlinge in den Sog der Industriestandorte.
Diese reichen aber nicht aus, um sie alle aufzunehmen, und deshalb ermutigt
die Führungsschicht ganz bewußt die Auswanderung ins Ausland: in nahe europäische
Staaten, die zu diesem Zeitpunkt händeringend Arbeitskräfte suchen. So nimmt
alleine das Nachbarland Frankreich in zehn Jahren mehr als eine halbe Million
Spanier auf. Von der Armut vertrieben, bilden diese Auswanderer eine Quelle
des Wohlstands: ihre Überweisungen an die im Land zurückgebliebenen Familien
und die Ersparnisse, die sie während ihrer Jahre im Exil anhäufen, um dann später
davon ein Haus zu bauen oder ein Geschäft zu eröffnen, steigern Deviseneinfuhr
und Zahlungsbilanzüberschuß mit dem Ausland ... Diese fleißigen Ameisen in der
Ferne machen Spanien so um einiges reicher.

Der dritte Antriebsfaktor des desarrollo ist kein anderer als der gleichfalls
wertvolle Devisen einbringende Fremdenverkehr. Spanien lernt seine Sonne, seine
alten Gemäuer, seine Strände sowie seine Stiere zu vermarkten. Die europäische
Mittelschicht, später dann von den unteren Schichten gefolgt, dringt nach Spanien
wie in ein erobertes Land ein und nutzt dabei den Rückstand der spanischen Preise
- und Gehälter - aus, um dort ein schönes Leben zu führen. Abgesehen von einigen
Städten mit Kunstschätzen, an denen die Touristen nur vorüberziehen, drängen
sie sich an den Stränden der Balearen und an der Mittelmeerküste: wie in einer
Industrie schafft ihre hohe Zahl dort neue, zum Teil saisonabhängige Arbeitsplätze
für Arbeitskräfte, die ursprünglich in der Landwirtschaft tätig, sich nun plötzlich
in einem kosmopolitischen Turm zu Babel wiederfinden.

Aber man sollte vielleicht besser von einer babylonischen Mauer sprechen? Immobilienspekulanten
häufen riesige Hotels, standardisierte Apartmentblocks und enorme Freizeitkomplexe
in Form monströser Betongeschwüre auf, die bisweilen wundervolle Landschaften
entstellen: am wilden Cabo de la Nao, zwischen Valencia und Alicante, wurden
die Felsen mit Dynamit weggesprengt; auf der kleinen Festungsinsel von Peñiscola,
die das Meer wie ein Bug durchschnitt, ist mittlerweile die Aussicht durch die
Aneinanderreihung von Hochbauten unmittelbar am Strand versperrt; in Torremolinos,
an der Costa del Sol, verschwinden das alte, um seine Kirche herum gruppierte,
Fischerdorf hoch oben auf den Klippen und der Wachturm hinter dem weiter unterhalb
errichteten Betonwall. Wer im Gewühl der sich durch die Hauptstraße schiebenden
Menge unterzugehen droht, an einen surrealistischen Basar erinnernd, wo Spanien
buchstäblich auf den Strich geht, um sich wie eine Hure an Touristenhorden zu
verkaufen, tröste sich damit, dass das »spanische Wirtschaftswunder« der sechziger
Jahre diesen unabdingbaren Preis zu entrichten hatte.