Demokratie lernen

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Das Erwachen der demokratischen Gesellschaft

Ohne dass im Ausland davon Notiz genommen wäre, begleitet eine umfassende soziale
Umwälzung diese wirtschaftliche Veränderung während der letzten Jahre in der
Franco-Ära. Um Zutritt zum sich neu bietetenden Konsumparadies zu erlangen,
stürzt Spanien sich in die Arbeit. Die Vollbeschäftigung, durch Abwanderung
von Arbeitern ins Ausland gesichert, ermöglicht den Daheimgebliebenen die Ableistung
zahlreicher Überstunden und, was sogar noch häufiger vorkommt, zwei Arbeitsplätze
gleichzeitig auszufüllen. Der pluriempleo, ein alte, lange Zeit durch Hungerlöhne
bedingte Praktik, wird zum Instrument zur Erreichung des angestrebten Lebensstandards.
Indem er sich abrackert und mit wenig Schlaf zufriedengibt, rennt der spanische
Arbeiter bis zur Atemlosigkeit, um auf dem nivel europeo, dem europäischen Standard,
sein Auskommen zu finden.

Im Zusammenhang mit der Wirschaftsblüte fassen sich die lange Zeit zum Schweigen
verurteilten Arbeiter ein Herz und fordern ihren Anteil vom Wachstumskuchen.
Mächtige Streikbewegungen, im Prinzip illegal, die aber das Regime nicht zu
verhindern weiß, erschüttern die Betriebe und erreichen ihren Höhepunkt in der
Zeit von 1966 bis 1969. Eine neue Generation gewerkschaftlich organisierter
Arbeiter verdient dabei ihre ersten Sporen und findet zu einer alten Gewerkschaftstradition
zurück. So entsteht eine immer offener agierende Bewegung, die sich hauptsächlich
in von aktiven Christen und insbesondere von kampferprobten Kommunisten ins
Leben gerufen Arbeiterkommissionen äußert. Die Arbeitgeber ihrerseits entdecken
die Grenzen der Bestrafung und bevorzugen daher oftmals, Konflikte beizulegen,
indem sie mit Organisationen verhandeln, die eigentlich ohne legale Grundlage
arbeiten. Das Wirtschaftswachstum hat noch eine andere Folge: eine neue Mittelklasse
entsteht, in der sich Kaufleute, kleine Unternehmer, deren Geschäfte blühen,
Techniker sowie Vorgesetzte und Angestellte des Dienstleistungssektors tummeln.
In der nun entstehenden Mythologie weicht der ausgemergelte caballero in seiner
altmodischen Kleidung dem braungebrannten ejecutivo, der spanischen Version
des Managers, die von nun an in der Werbung Furore macht.

Eine insgesamt erneuerte Gesellschaft ergereift mit aller Macht die Freuden
des Konsums. Das Auto, schon lange begehrtes Objekt, wird zu seinem glänzenden
Symbol. Man spricht schon von der »Gesellschaft des 600er« (es handelt sich
um den Seat 600, die spanische Version des Fiat-Modells). Familien, die sich
in seinen engen, eiförmigen Raum hineinpressen, haben das Gefühl, auf den Triumphwagen
der Moderne zu steigen! Weitere Talismane verwandeln das Heim. Fernsehantennen
gespicken die Dächer der Mietshäuser, deren Arme selbst auf den Firsten der
bewohnten Höhlen in Andalusien emporragen. Der Kulturschock erreicht die ländlichen
Gebiete: das Geschwätz der Frauen am Brunnen verstummt, von dem Moment an, da
das Wasser bei ihnen zu Hause aus dem Wasserhahn läuft; und die weißen Laken
der Waschfrauen am Flußufer verschwinden mit dem Einzug der Waschmaschine. Der
Traktor verdrängt auf den Feldern den jahrtausendealten Handpflug, der sich
in die Volkskundemuseen flüchtet, wo er auf den trillo trifft, das mit Feuerstein
überzogene Dreschbrett, mit dem man die Ähren auf der Tenne auskörnte ... Liebhaber
Spaniens und seiner jahrhundertealten Gewohnheiten müssen erleben, wie das ganze
traditionelle System auf brutale Weise Vergangenheit wird.

Das geistige Leben begleitet diese gesellschaftlichen Veränderungen am Ende
der Ära Franco bzw. geht ihnen auch manchmal voraus. Die Niederlage Spaniens
hatte einen Großteil seiner klügsten Köpfe ins Exil getrieben. In dieser Diaspora
bewahrt ein Spanien aus der Zeit vor dem Desaster, im Vakuum sozusagen, noch
die Lyrik eines Juan Ramón Jiménez, eines Rafael Alberti, sowie die Traumvisionen
eine Luis Buñuel und die zahlreichen Romane eines Ramón Sender. In der darauffolgenden
Generation entschließt sich ein Juan Goytisolo ins Exil zu gehen, um auf fremdem
Boden die Wurzeln eines für die Verschiedenheit der Kulturen offenen Spaniens
aufzufinden. In diesem dumpfen, von der Außenwelt abgeschnittenen Land beobachten
starke Persönlichkeiten in kompromißlosen Werken die Mitglieder einer verletzten
Gesellschaft, wobei sie, wie Camilo José Cela, Sarkasmus einsetzen, oder, wie
Miguel Delibes, eine eher keusche Ironie. Frühere Anhänger der Ideologie des
Regimes wenden sich von ihr ab, um die Wege der Freiheit zu erforschen, so wie
der Dichter Dionisio Ridruejo und der Romancier Gonzalo Torrente Ballester,
hin zur barocken Fantasie. Nach und nach erhebt sich der lyrische Gesang der
Kriegsopfer García Lorca und Miguel Hernández und findet, nachdem zunächst eher
im Verborgenen geblieben, ein breites Publikum.

In den letzten Jahren des Regimes erwacht die Presse aus ihrem Opportunismus,
begünstigt durch eine weniger strenge Gesetzgebung, und beteiligt sich an der
Meinungsbildung. Die Debatte über die andere Zukunft Spaniens gerät in die Öffentlichkeit;
das ist die Stunde, in der das Magazin Cambio 16 auf den Markt kommt, dessen
Titel schon von sich aus zum »Wechsel« einlädt. Das Kino nimmt Anteil an dieser
Erneuerung mit den satirischen Filmen von J.A. Bardem und Luis G. Berlanga,
später dann mit den Anfängen jener Reise, die Carlos Saura bis in die Tiefe
der spanischen Wahnvorstellungen unternimmt. Jedes vorüberziehende Jahr läßt
die Zahl derer ansteigen, die auf der Straße, in den Fabriken, in den Bänken
der Universität und bei den tertulias der Intellektuellen danach streben, unter
das erdrückende Regime endlich einen Schlußstrich zu ziehen. Die Gesellschaft
des desarrollo ist bereit für die Demokratie.