Übergang

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Die Überraschungen des Übergangs

Am 20. November 1975 scheidet der Caudillo aus dem Leben, im Schutz der an
seinem Kopfende plazierten Arm-Reliquie der heiligen Theresia – heute im Karmeliterkloster
von Alba de Tormes aufbewahrt. Für alle Spanier, die tagelang den Atem angehalten
hatten, ist dies die Stunde der Wahrheit. Es ist noch nicht einmal zwei Monate
her, dass der starrköpfige Greis fünf militante Mitglieder der ETA und des FRAP
trotz der Gnadengesuche aus dem In- und Auslandland in den Tod geschickt hatte.
Als sich auf seine sterblichen Überreste die Granitplatte senkt, die sein Grabmal
im Valle de los Caídos versiegelt, wer würde es da wagen, Versprechungen für
die Zukunft zu machen? Hatte der lästige Patriarch nicht bis zum letzten Atemzug
geglaubt, sein Land in den engen, unauflösbaren Knoten der Institutionen »verstrickt,
und zwar gut verstrickt« (»atado, y bien atado«) zu hinterlassen?

Nun schlägt die Stunde eines Mannes, den er schon 1969 als Nachfolger ausgesucht
hatte. Der »Prinz von Spanien«, im Schatten des Caudillo aufgewachsen, ein Enkel
des abgesetzten Königs Alfons XIII. wird zum König Juan Carlos. Für wie lange?
Diejenigen sind in der Minderheit, die auf die Zukunft dieses linkisch wirkenden
Prinzen von hoher Statur setzen würden, der im Serail Francos aufwuchs, und
den der Spott der Spanier eine Zeit lang mit dem Spitznamen Juanito el Breve
(Hänschen der Kurze) belegt hatte! Die zunächst ungläubige, dann aufmerksam
gewordene und schließlich überzeugte Öffentlichkeit braucht nur einige Monate,
um die großartige Schachpartie zu verfolgen, die von dem eröffnet wurde, den
seine unvorsichtigen Verleumder auch el bobo, den Narren, nannten. Indem er
mit sympathischer Verschlagenheit jenes politische Geschick anwendet, das er
von seinem furchtbaren Mentor erlernt hatte, zum Zwecke der Wiederversöhnung
der Spanier, zögert Juan Carlos nicht, seine Spötter zum Schweigen zu bringen,
die allerdings in Spanien unverbesserlicher sind als andernorts.

Die ersten Monate der neuen Regierung stellten erst einmal eine wenn auch mit
höchster Vorsicht absolvierte Probezeit dar. Der König wußte ganz genau, welche
Trümpfe man im »Bunker«, bei den Anhängern Francos, noch versteckt hielt, vor
allem wegen des starken Rückhalts, den er in der Armee besaß. Er hütete sich
auch, die äußerste Rechte offen herauszufordern. Sein Spiel wurde durch den
Tod von Admiral Carrero Blanco erleichtert, Ende 1973 Opfer eines spektakulären
Attentats der ETA, und der ein zäher Partner gewesen wäre. Dadurch, dass er an
der Regierungsspitze den vom Caudillo hinterlassenen Mann Arias Navarro beibehielt,
einen Epigonen des franqustischen Staates, ließ er diesen selbst den Beweis
seiner Unfähigkeit liefern, zwischen Kontinuität und Reform zu wählen. Die Ernennung
seines früheren Hauslehrers jedoch, des scharfsinnigen Juristen Fernández Miranda,
an die Spitze der Cortes und des Kronrates (ein wahrer Vormundschaftsrat, der
seine Entscheidungsfreiheit zügelte) erlaubte ihm, jedem Widerstand dieser Institutionen
gegen ihre baldige Beseitigung zuvorzukommen.

Die entscheidende Phase der Partie kann also beginnen, geführt mit der Schnelligkeit
eines Blitzkriegs. Der erste Schlag jedoch verwirrt, denn nachdem der König
am 1. Juli 1976 den Rücktritt von Arias Navarro, dem Mann der Vergangenheit,
erzwungen hat, fordert er das Schicksal heraus, indem er das Amt des Ministerpräsidenten
dem zwielichtigsten der drei vom Kronrat vorgeschlagenen Kandidaten anvertraut,
nämlich Adolfo Suárez. Daraufhin erhebt sich ein großes Geschrei: war er nicht
aus einem Apparat hervorgegangen, in dem er alle Stufen mühelos erklimmen konnte,
war er nicht erst gestern noch Minister des Movimiento, ständiger Chef der von
Franco eingesetzten Einheitspartei? Die Überraschung reicht bis hin zur Skepsis.
Dennoch: innerhalb von zwei Jahren wird dieser junge Erbe Francos, mit dem Aussehen
eines Playboys, mit vollendetem Geschick diese neue Strategie der Selbstzerstörung
einer Diktatur verfolgen, zu deren Leiter der König ihn macht.

Kaum sitzt er fest im Sattel, da setzt Suárez draufgängerisch zum »Übergangsgalopp«
an. Nach mehreren aufeinanderfolgenden Amnestien werden fast alle politischen
Häftlinge aus den Gefängnissen entlassen. Schon im November lassen sich die
verschreckten Cortes des früheren Regimes die Abstimmung abtrotzen, die ihr
Harakiri besiegelt und die Ernennung eines neuen Parlaments durch allgemeine
demokratische Wahl vorsieht. Im Dezember liefert ein Volksentscheid die massive
Zustimmung der Wählerschaft zu dieser stillen Revolution. Jetzt muß nur noch
die politische Opposition aus dem Ghetto geholt werden, die in der Ära Franco
verfolgt und in den Untergrund getrieben wurde. Geheime Treffen mit romanhaften
Wendungen begründen eine vertraute, fast herzliche Beziehung zwischen dem Regierungschef
und den Leitern von kurz zuvor noch verbotenen Organisationen. Wenn die Legalisierung
fast aller Parteien (unter ihnen die PSOE, die alte sozialistische Partei mit
der republikanischen Ader) auch völlig undramatisch vonstatten geht, so gilt
das jedoch nicht für die Kommunistische Partei, aus der vierzig Jahre Propaganda
ein apokalyptisches Monster machten. Suárez muß den Eintritt dieses Werwolfs
in den Schafstall mittels eines juristischen Gewaltstreichs durchsetzen, der
überraschend am Morgen des Karsamstags vollendet wird (die treuen Anhänger Francos,
unter ihnen viele Militärs, werden ihm diese Missetat nie verzeihen). Es war
Zeit dazu: der Wahlkampf kann nun beginnen, unter Beteiligung der ganzen Bandbreite
einer pluralistischen Demokratie, um die verfassungsgebenden Cortes zu wählen,
die sich am 13. Juli 1977 in denselben Bankreihen versammeln, wo die Würdenträger
des abgehalfterten Regimes getagt hatten. An diesem Tag »ist der Krieg endgültig
vorbei und der Auftrag von Suárez im Wesentlichen erfüllt«.

Ein Jahr geduldiger interner Gespräche erlaubt es, eine moderne Verfassung
zu entwerfen, die das Königtum eng mit der parlamentarischen Demokratie verknüpft.
Der Text läßt viel Raum für die politischen Rechte, manchmal in ganz neuer Form,
wie beispielsweise bei der Anerkennung des Berufsgeheimnisses bei Journalisten
(Artikel 20). Zwar wird die Trennung von Staat und Kirche erwirkt, ersterer
ist aber dazu entschlossen, »ein Verhältnis der Zusammenarbeit mit der katholischen
Kirche aufrechtzuerhalten« (Artikel 16) - der harte Flügel des Episkopats, mit
dem Kardinal-Primas an der Spitze, prangert postwendend den der Verfassung innewohnenden
»Atheismus« an. Ein ganzes Kapitel (Artikel 143-158) ist dem Recht der Provinzen
gewidmet, »autonome Körperschaften zu bilden, welche die Möglichkeit zur »Selbstregierung
erhalten« - ein radikaler Bruch mit dem in der Ära Franco aufgezwungenen Zentralismus.

Beim Referendum am 6. Dezember 1978 wird dieser Text von siebenundachtzig Prozent
der Wähler angenommen. Von nun an gelten die Spielregeln der Demokratie.

Nun fehlt nur noch, dass auch alle dabei mitspielen. Das trifft aber auf die
ETA nicht zu, die im Baskenland und an anderen Orten ihre terroristischen Aktionen
auf die Spitze treibt. Am anderen Extrem haben die Militärs nichts gelernt und
nichts vergessen und wollen nicht darauf verzichten, die »faktische Macht« wiederherzustellen,
die ihnen gehört hatte, indem sie im Verborgenen einen golpe anzetteln, der
den König stürzen soll. Nach einigen Fehlschlägen bietet sich Anfang 1981 die
erträumte Gelegenheit, als Adolfo Suárez sich zum Rücktritt entschließt, angeschlagen
durch den Machtverschleiß und die Uneinigkeit in der Zentrumspartei UCD, die
er ins Leben gerufen hatte. In der Nacht des 23. auf den 24. Februar, mitten
in einer Sitzung der Cortes, bricht das Feuer los. Den Zweispitz der Guardia
Civil auf dem Kopf, brüllt Oberst Tejero, mit der Waffe in der Hand: »Todos
al suelo«! (»Alle auf den Boden«!). Die Abgeordneten werden zusammen mit der
zurückgetretenen Regierung als Geiseln genommen. In dieser verrückten Nacht,
die ganz Spanien niedergeschmettert am Fernseher live mitverfolgen kann, wird
ein Mann die Demokratie retten, die er zuvor schon wiederhergestellt hatte.
Juan Carlos identifiziert sich mit der Rechtmäßigkeit der Verfassung. In seinem
Büro im Zarzuelapalast greift er zum Telefonhörer, um die Armeechefs zu ihren
Posten zurückzurufen, und dann eine ausschlaggebende Botschaft über das Fernsehen
an das Land richtet. Gegen Morgen ist die Partie gewonnen und Spanien hat in
Juan Carlos den Garant seiner Freiheit entdeckt - und erteilt ihm in dieser
Nacht eine Art Weihe durch das Volk.