Das Spanien der Sieger

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Vom Movimiento zur Movida

Ein halbes Jahrhundert lang nahm die Geschichte Spaniens einen derartig kontrastreichen
Verlauf, dass die Nachbarstaaten aus dem Staunen nicht mehr herauskamen: wie
konnte dieses Land, in der Vergangenheit ständig in Bewegung, so unter dem Joch
einer der längsten Diktaturen erstarren, die der Geschichte bekannt sind - sechsunddreißig
endlose Jahre, fast vierzig, wenn man den nationalistischen Staat während des
Bürgerkriegs hinzuzählt? Und wie vermochte es sich in den wenigen Jahren des
beschleunigten »Übergangs«, der völlig gewaltfrei verlief, in eine Demokratie
ohne Dramen - wenn auch nicht ohne Probleme - verwandeln, in der man sich als
europäischer Ausländer nicht mehr fremd fühlt? Die Spanier selbst haben schon
Mühe, auf diese Frage eine einfache Antwort zu geben. Ist es darum unbesonnen
zu versuchen, es an ihrer Stelle zu tun?

Das Spanien der Sieger

Ist der Bürgerkrieg wirklich am 1. April 1939 zu Ende? Das ist jedenfalls nicht
die Ansicht der Sieger, denn für sie ist ihre Mission noch nicht erfüllt, solange
sie nicht das ganze Übel ausgetilgt haben. Der weiße Terror bestraft nicht nur
die mutmaßlichen Urheber des roten Terrors der republikanischen Zone, sondern
alljene, die nichts getan haben, als die Legalität des niedergeschlagenen Systems
anzuerkennen, wie beispielsweise die auf ihrem Posten verbliebenen Beamten.
Auf die rasche Säuberungsaktion der Falangekommandos folgt die willkürliche
Gerechtigkeit der Militärgerichte. Wehe den Besiegten: zwischen 1939 und 1944
mähen die Salven der Erschießungskommandos mehr als hunderttausend Verurteilte
nieder, wie einige behaupten sogar fast zweihunderttausend. Die Gefängnisse
sind überfüllt mit Häftlingen; und die aus Mangel an Beweisen Freigekommenen,
einer neuerlichen Denunzierung preisgegebene Parias, müssen erleben, dass ihnen
jegliche Anstellung verweigert wird. Die Kinder der Opfer werden dabei auch
nicht vergessen, denn die Heime des Auxilio social (Sozialhilfe), die sie aufnehmen,
kümmern sich darum, sie auf den rechten Weg zurückzuführen. »Wir wollen sie
dahin bringen, dass sie eines Tages sagen werden: zweifellos hat das falangistische
Spanien unsere Väter hingerichtet, aber nur deswegen, weil sie es verdienten«,
erklärte damals ein Würdenträger des Regimes.

Es geht darum, ein geeintes Spanien zu gestalten. Die nationale Vergangenheit
wird zu Hilfe gerufen: Joch und Pfeile der Katholikenkönige werden wieder ans
Licht gezerrt und fordern dazu auf, den Nacken zu beugen und die nationalen
Kräfte zu vereinigen nach dem Muster des italienischen Faschismus. General Franco,
Staatschef seit Oktober 1936, nennt sich nach dem Vorbild der Kriegsherren während
der Reconquista Caudillo Spaniens »von Gottes Gnaden«, mit einer historischen
und von der Vorsehung bestimmten Mission betraut. Die siegreiche Armee, Garantin
der nationalen Einheit und Hüterin des Heiligen, erlebt, wie ihre Aufgaben gepriesen
werden. Die Kirche hat auch ihren Anteil an dieser umfassenden »Läuterung«.
Ob in den Gefängnissen oder in den Schulen - überall ist sie präsent, bestrebt,
dieses Volk, das ihr beinahe entglitten wäre, wieder in ihren Besitz zu bringen.
Der Stempel, den sie Spanien aufdrückt, gibt diesem Land ein anderes Gesicht
als jenes der klassischen faschistischen Systeme. Mit dem Segen von Papst Pius
XII. entwickelt sich der Nationalkatholizismus zum Barden des siegreichen »Kreuzzugs«.
Im Namen der Sühne für die Kollektivschuld zwingt er dem täglichen Leben einen
starren Puritanismus auf, der es auf die fleischlichen Lüste absah, sowie auf
die ruchlose Freiheit des Geistes.

Unter Francos bedingungsloser Autorität strebt eine Einheitspartei nach der
Lenkung des ganzen politischen Lebens. Tatsächlich stellen die »Blauhemden«
aus der Falange die Führungskader des Movimiento und kontrollieren die ihnen
hierarchisch untergeordneten Syndicatos Verticales, monopolartige berufständische
Körperschaften. Dadurch rufen sie die versteckte Eifersucht ihrer anderen Glieder
hervor, insbesondere der Karlisten und Monarchisten. Dadurch, dass der Caudillo
an die Arbeiterklasse, der das Streikrecht vorenthalten wird, und die als Ausgleich
dafür sichere Arbeitsplätze besitzt, Pfründe verteilt, indem er ihren Volksreden
freien Lauf läßt, gelingt es ihm eine Zeit lang, sie ruhig zu halten. Aber die
tatsächliche Macht behält der Staatschef für sich selbst. Mit schlafwandlerischer
Sicherheit versteht er es, sich im rechten Augenblick der Minister zu entledigen,
die ihre Zeit hinter sich haben, um sich dann neue Mannschaften zu suchen. So
hat er 1945 keine Skrupel, seinen eigenen Schwiegersohn Serrano Suñer und die
Männer der Falange, eifrige Anhänger Nazideutschlands, zu entlassen, um sie
durch konservative Katholiken zu ersetzen, die das Vertrauen des Episkopats
und des Vatikans genießen. Im Jahre 1957 bricht er mit der Autarkie verfolgenden
Wirtschaftspolitik, die das Land im Elend hielt, und vertraut den Technokraten
vom Opus Dei - eine für Laien zugängliche, 1928 gegründete religiöse Vereinigung
- um die Grenzen zu öffnen und die Voraussetzungen für Wachstum zu schaffen.
Als letztere 1974 ihrerseits durch den MATESA-Skandal kompromittiert werden
- für fiktive Exporte kassierte die von einem Opus Dei-Mitglied geleitete Maschinenbaufirma
mit Wissen mehrerer, ebenfalls dem Opus Dei angehörender, Minister Subventionen,
die in dunklen Kanälen verschwanden - gelingt es dem alten Caudillo noch, sie
loszuwerden, um dann das Amt des Ministerpräsidenten dem treuen Admiral Carrero
Blanco anzuvertrauen, der so zum Testamentsvollstrecker ernannt wird. Hinter
der straffen Fassade des Movimiento versteht es der listige Mann aus Galicien
bestens, mit der Rivalität unter den Clans sein Spiel zu treiben, um sie dann
allmählich in seine Herrschaft einzugliedern.

Dieselbe Verschlagenheit bestimmt die Umschwünge in seiner Außenpolitik, der
Entwicklung internationaler Kräfteverhältnisse entsprechend angelegt. Ob Vorsicht
oder Vorahnung, jedenfalls gelang es ihm, sich nicht definitiv an der Seite
Hitlers und Mussolinis während des Zweiten Weltkriegs einspannen zu lassen.
So konnte der deutsche Führer beim Treffen von Hendaye nichts als lächelnde
Umarmungen von dem Mann ernten, dem er während des Bürgerkriegs entscheidende
Hilfe geleistet hatte. Ein wenig später ermöglicht ihm die Entsendung der División
Azul (Blaue Division) an die russische Front auf der Seite der deutschen Armee
unter dem Vorwand der Freiwilligkeit gerade noch, eine direkte Einmischung Spaniens
in den Konflikt zu vermeiden. Es ist sein Glück 1945, dass sich die Alliierten
nach ihrem Sieg damit zufriedengeben, ihn vorübergehend politisch zu isolieren,
indem sie ihre Botschaften in Madrid schließen. Mit Hilfe des Kalten Kriegs,
den er kommen sah, gelingt es ihm, die Ausschlußpolitik zu durchbrechen, indem
er den USA die strategische Unterstützung Spaniens zusagt. Die Militärabkommen
von 1953 besiegeln diese neue Allianz. Die Stationierung amerikanischer Truppen
auf den Luftstützpunkten von Morón, Saragossa und Torrejón de Ardoz, sowie dem
Marinestützpunkt von Rota, später Heiligtum der nuklearen U-Boote, erhebt Spanien
zu einem Hauptbündnispartner des westlichen Lagers. Wie man sieht, verdankt
das äusserst lange Überleben des Francoregimes alles dem politischen Spürsinn
ihres Chefs.