Passagen & Galerien
Durch Passagen und Galerien
Spaziergänge durch überdachte Straßen
Passagen sind Fußgängern vorbehaltene Abkürzungen zwischen zwei großen Arterien; auf beiden Seiten von Läden gesäumt, werden sie von einem Dach geschützt und künstlich beleuchtet. Bei gehobener Ausstattung der Passage passen sich die Läden an. Die Galerie dagegen ist immer elegant ausgestattet, ihre Boutiquen bieten Luxusartikel an so Patrice de Moncan.
Das goldene Zeitalter der überdachten Straßen lag im ausgehenden 18. bis Mitte des 19. Jahrhunderts. Die Straßen waren noch weitgehend ungepflastert, die Passanten wateten im Schlamm und wurden von Pferden und Karossen übel zugerichtet. Welch eine Wohltat, auf neuen Wegen zu wandeln, die gleichzeitig innen und außen sind, ein Zwischending zwischen enormem Salon eines Palais, mit Wänden, Türen und Dach und einer Straße, die jedermann betreten kann wie er mag, so Bertrand Lamoine.
Die Bauzeit der Passagen und Galerien konzentriert sich auf die Jahre 1823-28 und 1839-47. Stattliche 150 waren es 1870. Im zweiten Kaiserreich hatten sie ausgedient, man mochte sie nicht mehr, bevorzugte die Grand Magazins mit ihren großen, strahlendhell beleuchteten Räumen und repräsentativen Treppen. Heute erleben sie teilweise eine erfreuliche Renaissance, ja die Idee wird von zeitgenössischen Architekten wieder aufgenommen (s.u.).
Im Palais Royal fing es mit hölzernen Vorbauten, den frühen Markthallen ähnlich an. Hier und in den schräg gegenüberliegenden prachtvollen Galerien Vivienne und Colbert wollen wir uns nicht aufhalten, sie sind wunderschön, gehören aber inzwischen zum Standardprogramm.
Beginnen wir an der Metrostation Château d`Eau (10.Arr.) zu einem Gang zu den weniger bekannten, weniger schönen, aber auch weniger besuchten Passagen. Die beste Zeit ist der Nachmittag. Vom bd. de Strasbourg aus betreten wir gegenüber Nr. 63 die Passage du Désir, deren erster Teil, früher voller Werkstätten, heute geschlossen ist. Über dem Eingang des zweiten Teils ist eine hübsche Inschrift erhalten. Der Name läßt die Aktivitäten, die sich einst außer dem biederen Handwerk abspielten vermuten: Bordelle erfüllten die Désirs der Herren. Ganz in der Nähe liegen, bezeichnend!, die rue de la Fídélité und die rue de Paradis.
Am kleinsten Haus von Paris (nur 1 Fenster), Nr. 39, rue du Château d`Eau vorbei, biegen wir über die rue Bouchardon (Blick in die Markthalle lohnt) in die nicht überdachte Passage du Marché St.-Martin. Wirklich alte Bistros, ein Glaser und Metzger sorgen für Leben. Das brodelt am Abend erst recht in der Passage Brady (43, rue du fbg. St.-Martin): Indien in Paris. Wirkt sie im ersten Teil mit ansehnlichen Häusern noch ganz und gar französisch, so weisen jenseits des bd. de Strasbourg die starken Currydüfte und vielen Tandoori-Schilder auf Exotisches hin. Indisch-pakistanische Restaurants, Kostümverleiher und fünf Friseure sorgen für Animation. In einer Ecke hübsche Reste alter, gestrahlter Glasfenster.
Bei der Nr. 42, rue du fbg. St.-Denis tauchen wir in die Passage de l`Industrie ein. 1827 für kleine Industriebetriebe gebaut, beherbergt sie Friseurgrossisten und ist eher unattraktiv. Wir gehen zurück zum bd. de Strasbourg, rechts in die rue de Metz mit schönem Jugendstilhaus, zurück zur rue du fbg. St. Denis, bestaunen das gleichnamige, unangenehm taubenbevölkerte Tor gleichen Namens. Es war nie Stadttor, sondern von Louis XIV. errichteter Triumphbogen, der an die vier, in der Schlacht am Rhein besiegten Städte erinnern soll.
Jetzt biegen wir links in die Passage du Prado, (12 fbg. St.-Denis) so genannt, weil ihr einstiger Besitzer ein Bewunderer des Prado Museums in Madrid war. Hier sind es Perücken en gros und Klamotten, die unter einer Art Deco Deckenverkleidung mit Spiegeln und der, die Kurve überbrückenden Rotunde die Läden beherrschen.
An der Porte St. Denis vorbei überqueren wir den bd. Bonne Nouvelle. Durch die rue Sainte-Foy erreichen wir bei Nr. 14 die Passage Sainte-Foy. Schmal, krumm und schief, mit Treppen, läßt sich ihre ursprüngliche Bestimmung als Festungsgraben noch erahnen. Schräg gegenüber dem Ausgang (Nr. 232, rue St.-Denis) verschwinden wir schon in die ausgesprochen häßlichen Passage Lemoine aus dem XVII. Jh. Zum bd. Sébastopol hin wird sie von einem großen Tor mit Blumenranke abgeschlossen. Wenige Schritte nach rechts stoßen wir auf die Passage des Dames de St. Chaumond, heute Cour 226. Hier dann ein großes blaues Holztor, elegante Lüster, Stuckdecken und DAS Palais, was irgendwie nicht zu dem Dreck, den Klamotten und dem Tatoo-Laden passen will, die die Passage und die Gegend beherrschen. Überhaupt fragt man sich ja wohl auf dem gesamten Spaziergang, wer all den Plunder tragen soll, der hier produziert, verpackt und herumkutschiert wird. Auch die vielen Friseure werfen Fragen auf.
In der Nr. 239, rue St.-Denis empfängt uns die dreifach verzweigte, geschichtsträchtige Passage du Caire. 1798/99 an der Stelle der ehemaligen Cour des Miracles erbaut, steht sie auf heißem Pflaster. Zu den Wundern (miracles): man erzählt sich, dass hier, nach Einbruch der Dunkelheit die Blinden sehen und die Lahmen gehen konnten. In der Tat war die Gegend Tummelplatz von Bettlern, fahrendem Volk und Taschendieben (angeblichen Blinden und Krüppeln). Dazu gesellten sich leichte Mädchen und Deserteure. Im Schutz der Nacht, der finsteren Durchgänge und schmalen Gassen wurden sie all abendlich gesund und munter. Der eifrige Polizeichef La Reynie fegte das Gesindel innerhalb 24 Stunden hinweg. Die letzten Bettler ließ er gar an Ort und Stelle aufhängen. Die genervten Anwohner quittierten die Aktion mit einem erleichterten: Bonne Nouvelle (Gute Nachricht), so dass die Gegend und ein Boulevard noch heute so heißen. Als Napoleon voller Begeisterung für die ägyptischen Bazare von seinem Feldzug dort zurückkehrte, ließ er nach ihrem Muster die drei bedeckten Ladenstraßen anlegen: die Passage du Caire. Die Bevölkerung war begeistert trockenen und sauberen Fußes shoppen zu können. Heute beherrschen Klamotten und Dekomaterial die Szene, wir sind im Sentier-Viertel, wo mit heißer Nadel gestichelt wird. Übrigens wird es niemandem entgangen sein, dass die Mädels zur Passage du Caire hin weniger und älter werden!
Zurück in der rue St.-Denis (Nr. 212) erreichen wir durch einen schmalen Zugang mit farbigen Wandbildern die Passage Ponceau, (jede Menge Damenpullover hängen da rum) zu Zeiten auch ein ganz heißes Pflaster. In der rue Ponceau fand man eines Morgens gar einen Bischof vor, den man augenscheinlich hastig angezogen, von einem der Appartements herausgetragen und auf die Straße niedergelegt hatte. Der Gottesmann war aus der südwestlichen Provinz in die freizügige Hauptstadt gekommen und war den Anstrengungen wohl nicht gewachsen.
Über die rue de Palestro erreichen wir die bedeutungslose Passage Basfour (sie ist eher eine kleine Straße. Den Namen trägt sie wegen der Gipsöfen, die einst in der Ecke köchelten) und die amüsante Passage de la Trinité, die eigentlich eine krumme Gasse ist, deren Boden aber mit quadratischen, kleinen, weißen Steinen, die ein Wellenmuster beschreiben und in der Mitte zu einem mini Bachlauf abfallen, gepflastert wurde. Früher war sie der Zugang zum Hôpital de la Trinité und dem gleichnamigen Friedhof. Aus Gründen der Hygiene wurden die Gebeine ab dem 17. Jahrhundert in die Katakomben (s. "Freizeit") geschafft. Das Krankenhaus wurde Waisenhaus. Wir wenden uns nach rechts (rue de Palestro), biegen etwas weiter (rue St. Denis überqueren) wieder nach rechts in die elegante Passage du Grand-Cerf. Hell, schwarz-weiß gekachelter Boden, gehobenes Kunsthandwerk, nicht Massentextilien sondern individuelles Schneideratelier, gepflegt. Vor 1835 beherrschte die Hôtellerie du Gand-Cerf die Gegend, dann kam das Dach und Handwerksbetriebe siedelten sich an, aus dem Grand - Cerf wurde eine Studentenkneipe, die brachte Leben und Stimmung. Heute sind die Wohnungen im ersten Stock immer noch nur mit Sozialschein zu kriegen, die Läden unten sind attraktiv und gewinnbringend vermietet. Die gegenüber dem Ausgang zur rue St.-Denis beginnende Passage du Bourg l`Abbé war im Winter 2003 mit Brettern verschlagen. Die aufwendige Restaurierung läßt Hübsches erwarten.
Mit den beiden letzten Passagen haben wir den Kreis zum Perfekten, Gepflegten, Edlen wieder geschlossen. Am Wegrand haben wir noch den einen oder anderen Durchschlupf ausgelassen, gehen Sie auf Entdeckungsreise. Von der feinen Sorte sind anderswo noch einige zu besichtigen: die Passage Véro-Dodat (11, rue J.-J.-Rousseau) zum Beispiel. Von den beiden Metzgern Véro und Dodat 1822 in Auftrag gegeben, hat sie bis heute ihre auffallend schöne, harmonische Architektur bewahrt: schwarz - weißer Fliesenboden, Kupfer gefasste Ladenfronten, gepflegte Geschäfte, man möchte verweilen. Wären nicht ein Stück weiter am bd. Montmartre die Passagen des Panoramas, Jouffroy und Verdeau zu besuchen. In der Ersten entführte bis 1831 ein in die Rotunde gemaltes Panoramabild mit Städteansichten die Besucher in ferne Länder, Zola verewigte sie in Nana, heute schlendert man an Antiquitätenlädchen vorbei zum Salon de Thé mit Second Empiredekor. Die zweite profitiert vom hier gelegenen Eingang zum Wachsfigurenmuseum. Die Passage ist sehr belebt, Buchantiquariat und Läden für Sammler. Ähnlich sieht es in der Galerie Verdeau aus.
Im ausgehenden 20. Jahrhundert haben namhafte Architekten sich des Themas der verglasten Einkaufsstraße wieder angenommen und es zeitgemäß umgesetzt: im Hallen Viertel (in den nächsten Jahren steht ein Lifting bevor) geriet sie protzig, in der dreistöckigen Passage du Havre wurden Zitate der zentralen Lichtquelle übernommen, während Ricardo Bofill in der Passage du Marché St.-Honoré ganz auf die traditionelle Metall gestützten, gläsernen Leichtigkeit setzt.
Im 1., 2., 9., und 10. Arrondissement ist Paris durchlöchert wie ein Schweizer Käse. Man kann die gestalteten Durchgänge gar nicht alle beschreiben und aufzählen. Seit 1999 gibt es sogar einen Verein für Passages et Galeries, der engagierte Präsident ist Robert Capia (s. "Dekoration"), Ladenbesitzer in der Galerie Véro-Dodat.