Nordosten
Der Nordosten in drei Etappen
Paläste, Villen und Geschichtliches
Die erste Etappe auf dem Streifzug im Nordosten soll das Hôpital Saint-Louis, (av. Richerand, 10. Arr, Metro Goncourt) sein. Zur Zeit der großen Pest (1606) auf Betrieben von Henri IV gebaut, wurden die Kranken in einer Ansammlung von Häusern, die mit der Außenwelt nur durch eine Art Durchreiche verbunden waren, inmitten blühender Gärten gepflegt. Man benannte das vorbildliche Krankenhaus nach dem Heiligen Ludwig, der selbst an der Pest gestorben war. Die sorgfältig restaurierte Anlage ist seit 1801 auf Hauterkrankungen spezialisiert und erfreut sich heute international eines hervorragenden Rufes. Die im Lauf der Jahrhunderte zugefügten Gebäude, die natürlich alle sanitären Normen erfüllen, sind so geschickt in den Komplex eingebettet, dass sie von bestimmten Standorten nicht sichtbar sind. Die Anlage aus rotem Backstein, dem in der Ile de France typischen, behauenen hellen Sandstein und den hohen Dächern ist neben der königlichen Place des Vosges und der romantischen Place Dauphine das dritte, im reinen Louis XIII. Stil erhaltene Ensemble. 1818 wurde hier erstmals die Beleuchtung mittels Gas ausprobiert. Eine benachbarte kleine Fabrik übernahm die Versorgung. Das System funktionierte bis 1890. Erst nach einigen Jahren des Probelaufs hier wurden Gaslaternen auch auf den Pariser Straßen installiert.
Über die rue de la Grange aux Belles und den bd. de la Villette gehen wir (oder fahren 1 Station mit der Metro) zum Ausgangspunkt des 2. Spaziergangs, von Stalingrad zu den Buttes-Chaumont. Die imposante Rotonde de la Villette erstrahlt in neuem Glanz und beherrscht die ebenfalls ansprechend neu gestalteten Place de Stalingrad. Der Rundbau ist der prächtigste von ehemals 54 Zahlstellen in der Zollmauer der Generalpächter, gebaut von Claude Ledoux. Heute beherbergt sie ein Lager für Ausgrabungsstücke und eine Restaurierungswerkstatt. Die Stadt hat Rotunde und Platz für künftige große Feste auserkoren, die Entwicklung muß weiterverfolgt werden.
Unser Weg führt uns am rechten Ufer des Bassin de la Villette entlang. Schon im 16. Jahrhundert litt die wachsende Stadt Paris an Wasserknappheit und man dachte darüber nach, das Wasser der Ourcq für die Versorgung zu nutzen. Erst 1808 konnte das Reservat mit großem Pomp eingeweiht werden. 27 m über dem Seineniveau gelegen, floss durch ein Zweikanalsystem immer gerade soviel Wasser in Richtung Arsenal und linkes Ufer bzw. Monceau, wie gerade gebraucht wurde. Vor Ort wurden Brunnen angelegt, Überschuß wurde zur Straßenreinigung verwendet. Die Pariser waren von der Wasserlandschaft vor den Toren der Stadt begeistert, genossen die Gegend im Sommer für Landpartien, zum Feiern in den berühmten Guingettes, für Bootsfahrten und im Winter zum Schlittschuhlaufen.
Dann kam die industrielle Revolution die Schiffahrt bemächtigte sich des idealen Versorgungswegs in die Hauptstadt und die Ufer wurden mit Lagerhäusern verbaut. Aller Charme war dahin. In den 80er Jahren des 20. Jh. setzte die Umkehrbewegung ein: Lagerhäuser wurden abgerissen oder in schicke Lofts verwandelt, die Ufer wurden begrünt, Radwege angelegt, kurz: der idyllische Zustand von einst weitgehend hergestellt. Diesen wollen wir genießen.
Am alten Schleusenwärterhaus läßt sich auf einer Tafel der Verlauf der Kanäle Saint-Denis und de l`Ourcq studieren. Unter Bäumen schlendern wir am Wasser entlang bis zum Metallsteg etwa in der Hälfte des Beckens und wechseln aufs andere Ufer. Vom Steg hat man nach links einen schönen Blick auf das Becken, die krönende Rotunde, über der die Spitze des Eiffelturms auftaucht, geradeaus überragen die drei Türme der Orgues de Flandre, ein in den Jahren 1960/70 ambitioniertes Wohnungsbauprojekt, die erste Häuserreihe. Rechts geht der Blick am Ende des Beckens zur soliden Hubbrücke und der gefälligen Passerelle de Crimée. Auf der mit Bäumen bestandenen Promenade Signoret/Montand erreichen wir die so rührend provinzielle Place de Bitche (Bäume, Kirche, Musikpavillion!). Von der Passerelle de Crimée aus bestaunen wir das technische Wunderwerk des Pont-Levant de Crimée der einzigen (ehemals) hydraulischen Hubbrücke an den Kanälen. Das Hebe- und Senkmanöver beeindruckt.
Wir laufen die schnurgerade rue de Crimée bis zur Nr. 136 entlang. Hinter dem nichtssagenden Wohnblock verbirgt sich ein Hof, um den herum noch typische eingeschossige Vorstadthäuschen erhalten und bewohnt sind. Schräg nach links geht es in die rue de Lorraine, links in die rue Petit, unter der Eisenbahn durch in die rue Auric. Die Ecke ist mächtig im Umbruch und zeigt multikulturelles Flair. Im letzten Drittel der rue Auric treffen wir auf einen für Paris so typischen architektonischen Knalleffekt, das strahlend weiße Lycée-Collège Georges Brassens. Der Kontrast steht gleich auf der anderen Straßenseite: die beiden massigen alten Säulen am Eingang zum Cimetière de la Villette. Wer genug Gegensätze gesehen hat, biegt rechts in die Allée Darius Milhaud überquert die rue Manin und kann sich schon im Parc des Buttes-Chaumont (s. "Freizeit") erholen.
Wer noch Lust hat, macht den 3. Spaziergang zur Anhöhe von Belleville gleich mit und spaziert die leicht ansteigende rue d`Hautpoul entlang (Nr. 35: Société Philanthropique 1780!), zweigt schräg nach links in die rue Compans und dann nach links in die rue Miguel-Hidalgo ab. Auf den ehemaligen Gipsbrüchen (denen begegnen wir wirklich überall in dieser Stadt) wurde 1878 ein legendärer Pferde- und Futtermittelmarkt abgehalten. Wir wollen uns an den um 1890 entstandenen 250 kleinen Häusern in autofreien Villas mit den schön eingewachsenen Vorgärten erfreuen. Sie ziehen sich zu beiden Seiten der Straße den Berg hinauf bis zur rue de Bellevue. Geht es in der Villa de Cronstadt eher bescheiden zu, so zeigt sich die Villa de Fontenay (in der rue du Gen.-Brunet geht es rein), eleganter, mit gestalteten Fassaden und gepflegten Gärten. Durch die rue de la Liberté mit dem malerischen Ensemble Nr. 6-8 biegen wir von der rue de L´Egalité nach rechts in die Villa du Progrès mit schmalbrüstigen Häuschen, aber immerhin auch mit einem echten Weinberg.
Wo wir die rue Mouzaia überqueren, grüßt das moderne Paris von der Place des Fêtes mit seinen Hochhäusern die dörfliche Idylle. Von den sieben Villas, die hier nebeneinander schnurgerade abgehen, nehmen wir die Villa de Bellevue. Der Namen sagt es: wir sind auf einer Anhöhe mit Aussicht, früher hieß sie Butte de Beauregard, was ja eigentlich auf dasselbe hinausläuft. Durch üppiges Grün erreichen wir die rue de Bellevue, die wegen der beachtlichen Höhenlage von 110 m einst windmühlengesäumt war. Über die rue Compans und rue Arthur-Rozier geht´s zur langen Treppe (abwärts) in der Villa Albert-Robida, die uns schon fast zum östlichen Eingang des Parc des Buttes -Chaumont (s. "Freizeit") bringt. Vielleicht haben wir nichts Spektakuläres auf dem Gang zwischen Wasserlandschaft und Park erlebt, aber wir haben einmal mehr sie krassen Gegensätze dieser Weltstadt der hundert Dörfer gespürt.