Handelsgeist
Vom Handelsgeist
Der Kaufmann ist immer tolerant, denn er will verkaufen ...
»Der Unterschied zwischen den alten »Republiek der Verenigde Nederlanden« und den Monarchien der umliegenden Ländern war der Unterschied zwischen Absolutismus und Relativismus, zwischen Kollektivismus und Individualismus, zwischen Dogmatismus und Skeptizismus, zwischen Sicherheit und Zweifel. Das ist heute noch immer so – und dieser Zweifel äußerst sich nicht selten auch als Selbstverleugnung mit manchmal sogar einer masochistischen Tendenz zur Selbstzerstörung. Die Niederländer haben eine schlechtere Meinung von den Niederlanden als Ausländer.
Nie haben die Niederlande versucht, ihren Kolonien ihre Sprache oder Kultur aufzuerlegen; man war zufrieden mit dem Geldverdienen. »Die Niederlande« hat für den Niederländer einen ganz anderen Klang als »Deutschland« für die Deutschen oder »La France« für die Franzosen.
Leider fallen demnach auch alle anderen großen Gefühle, Worte und Gesten dem holländischen Hohn zum Opfer. Allüre ist Ziererei, Fantasie unerwünscht, Begeisterung verdächtig, Überschwang unpassend. Was bleibt, ist das Kleine: nicht das Visionäre, sondern das Realistische, nicht Philosophie, sondern Psychologie – die Kennzeichen des Handelsgeistes. Die Schattenseite des fehlenden Absolutismus ist, dass Holland damit auch nie ein höfische Kultur gekannt hat. Nie gab es einen König, der seine imperiale Herrlichkeit durch Paläste, Standbilder, Gemälde, Gedichte, Theaterstücke ausdrücken ließ, der sich Orchester hielt, für die er Symphonien komponieren ließ, umgeben von Herzögen und Grafen, alle mit ihrer eigenen Pracht und Prahlerei. Shakespeare oder Mozart sind in Holland undenkbar. Das Sagen hatten die ebenso reichen wie geizigen und ziemlich akulturellen Patrizier. Und so ist es geblieben. Ein Platz mit einem Standbild ist in den Niederlanden eine Seltenheit. Von Rembrandt und Vermeer bis van Gogh und Mondrian ist es nur der Malkunst gelungen, im Kleinen groß zu werden. Der humanistische Spötter und Zweifler Erasmus von Rotterdam, der protestantische Katholik, unehelicher Sohn eines Priesters, ist der archetypische Holländer. Der große Spinoza war der Sohn von Einwanderern.
Dieser künstlerische und philosophische Asketismus ist das ausgezehrte Gesicht von Doktor Calvin. Der Unterschied zwischen dem holländischen Relativismus und den ihn umgebenden Absolutismus war von Anfang an auch der zwischen Protestantismus und Katholizismus. Auch von einem absolutistischen Papst wollte Holland natürlich nichts wissen, und im Protestantismus fand es den passenden Ausdruck seiner Widerstandsmentalität. Im 16. Jh. war der Kalvinismus der Motor für den Kampf gegen den katholischen spanischen König und hielt seinen Einzug mit dem Bildersturm, der in vielerlei Hinsicht bis zum heutigen Tag fortdauert.«
Harry Mulisch