Die Stadt der Grafen
Land mit zwei Mittelpunkten
War es Zufall oder Absicht, als man in diesem zweitausend Autobahnkilometer
zählenden Land vergaß, Madrid und Barcelona miteinander zu verbinden? Jedenfalls
wird man wohl auf das Jahr 2000 warten müssen, damit die beiden sich die Führung
streitig machenden Rivalen aufhören, einander den Rücken zuzukehren. Denn es
ist eine Tatsache, dass sich Spanien neben anderem Luxus auch zwei Hauptstädte
statt einer geleistet hat, zwei von Traditionen genährte Energiequellen, in
denen sich eine fieberhafte Modernität entwickelt. Das geht natürlich nicht
ohne Schwierigkeiten vonstatten, die berücksichtigt werden sollten: wie ein
Mann, der mit zwei sehr besitzergreifenden Geliebten ein Verhältnis hat, gibt
er nie der einen gegenüber zu, die andere zu besuchen ... und umgekehrt! Nun
kann er aber weder die eine noch die andere ignorieren.
Die Stadt der Grafen
In Wirklichkeit kann Barcelona noch wesentlich ältere Adelsbriefe vorweisen.
Vermutlich wie auch Marseille eine Phöniziergründung war es auf jeden Fall eine
bedeutende römische Siedlung. Um die ganze Altstadt herum sind die Überreste
der Stadtmauer noch gut sichtbar, vor allem auf dem Platz Berenguer el Gran.
Nach kurzer maurischer Besatzung wurde es Hauptstadt der mächtigen Grafen (daher
ihr Beiname ciudad condal), die es verstanden, sich zu Herren über ganz Katalonien
zu erheben, bevor sie im 12. Jahrhundert die Krone der Könige Aragoniens erwarben.
Als cap y casal de Catalunya war Barcelona in der Folge Triebfeder der aragonischen
bzw. katalanischen Expansion in den Mittelmeerraum, wobei für längere Zeit Sardinien,
Sizilien, das Königreich Neapel und sogar vorübergehend das Herzogtum Athen
unterworfen werden konnten!
Das Schicksal Barcelonas ist demzufolge eng mit seinem Hafen verknüpft, der
natürlich geschützt wird vom Massiv Montjuich, das ihn im Süden überragt. Vom
volkstümlichen Viertel La Barceloneta aus, das sich an den Hafen anschließt,
und wo es nur so wimmelt von Kneipen und auf Meeresfrüchte spezialisierten Restaurants,
erlaubt die Seilbahn, über die Dächer hinwegzuschweben, wobei man auf einen
Blick das Stadtpanorama überschaut ... sofern einem nicht leicht schwindlig
wird! Mitten in einem gigantischen Amphitheater, nach Westen hin durch den Gipfel
des Tibidabo versperrt, erscheint der ursprüngliche Kern der mit Kirch- und
anderen Türmen gespickten Stadt, ausgedehnt durch aufeinanderfolgende Verstädterungswellen,
die jeglichen bebaubaren Raum verschlungen haben. Jenseits dieser doch so weitläufigen
Wohnlage haben sich die anderen Ortschaften entwickelt, die heute ein Ballungsgebiet
von über drei Millionen Einwohnern bilden - mehr als die Hälfte der ganzen katalanischen
Bevölkerung - und zwar in nördlicher Richtung, wo sich die steilen, wie ein
Wandschirm aufsteigenden Berge neigen, Badalona und Santa Coloma de Gramenet,
und nach Süden, die dichtbevölkerten Vororte im Tal des Llobregat.
Da er heute zu beengt ist, bereitet es dem Hafen von Barcelona Mühe, seinen
Rang gegenüber den modernen Einrichtungen von Marseille-Fos oder Genua beispielsweise
zu behaupten. Er ist aber reich an Erinnerungen: so ist in einem seiner Becken
eine Nachbildung jener Karavelle zu besichtigen, die Kolumbus hierhin zurückbrachte,
damit er seine Entdeckung den Katholischen Königen mitteilen konnte. Am Rande
des Hafens und etwas zurückgezogen - denn das Meer ist zurückgewichen - zeugen
die atarazanas von der ruhmreichen Seefahrerzeit dieser Stadt. Die gotischen
Schiffe dieses ehemaligen mittelalterlichen Arsenals erheben sich über ausgetrockneten
Docks, auf denen sich einst Zimmermänner und Kalfaterer zu schaffen machten.
Dort gibt es auch ein Seefahrtsmuseum, wo allem voran die lebensgroße Kopie
der Königsgaleere von Don Juan d´Austria von der Schlacht bei Lepanto zu besichtigen.
Man beginnt über Cervantes nachzusinnen, der auf der Suche nach Ruhm auf einem
der Geleitschiffe Don Juans anheuerte und verkrüppelt zurückkehrte, da er in
der Hitze des Gefechts einen Arm verloren hatte ...
Das rege Leben auf den Ramblas führt uns in eine von Menschen nur so wimmelnde,
bunte Wirklichkeit zurück. Diese von den, vom Tibidabo herunterstürzenden, Wassern
ausgespülte ehemalige Schlucht wurde zugeschüttet, um jene schon legendäre Promenade
anzulegen, die Tag für Tag den Strom der Passanten anzieht. Barcelonas Puls
schlägt auf den Ramblas (Rembles auf Katalanisch) an den heutigen Sommerabenden
ebenso fröhlich wie er damals in den heiklen Momenten der Geschichte fieberhaft
schlug. Um die überdimensionalen Zeitungskioske herum kommentieren Neugierige
die Aktualität; weiter oberhalb rivalisiert der Blumenmarkt in Glanz mit den
Käfigen, in denen Vögel aus allen Kontinenten ausgestellt sind. Wenn in den
Theatern die Vorstellungen beginnen, versammeln sich die Schaulustigen, um das
Karussell der Limousinen zu betrachten, welche die eleganten, mit Schmuck behängten
Reichen vor dem Liceo absetzen, jenem Opern- und Theaterhaus, an dem Montserrat
Caballé debütierte. Das Leben auf den Ramblas steht niemals still.
Wandert man die Ramblas hinauf, so sollte man sich nicht zu sehr ablenken lassen,
denn die Touristen sind ein bevorzugtes Wild für die teuflisch geschickten Taschendiebe.
Liebhaber des Besonderen können sich auf eigene Gefahr in das berühmte Barrio
Chino wagen, das zu ihrer Linken beginnt, um auf den Spuren von Cendrars, Hemingway
und Mandiargues zu wandeln. Dort häufen sich in einem bunten Durcheinander schmutzige
Elendsquartiere, die ein ärmliches Subproletariat beherbergen, Seemannskneipen
und andere Etablissements, deren offizielles Ladenschild eines Friseur- oder
Massagesalons nur dürftig die Hauptaktivität verbirgt. Ganz zu schweigen von
den auf die Behandlung von Geschlechtskrankheiten spezialisierten Apotheken
und Polikliniken: die Prostitution beider Geschlechter ist die Hauptbeschäftigung
in diesem heißen Viertel. Hinzu treten alle Arten von Geschäften, von denen
das mit Drogen einen wahren Boom erlebt hat. Die camelos - d.h. die Dealer,
wie man auf gut Deutsch sagt - verstecken sich nicht, um den Passanten ihre
chocolate anzubieten, teilweise sogar auf den Ramblas und um die Arkaden der
Plaza Real herum. Mit Bedacht siedelte Manuel Vázquez Montalbán das Geschäft
seines »privaten Nonkonformisten« Pepe Carvalho, der in das Leben der Unterwelt
eines verrufenen Barcelonas verwickelt war, auf den Ramblas an.
Zur Rechten beginnt der mittelalterliche Teil der Stadt, der seinen Namen Barrio
Gótico voll verdient, ein Straßenlabyrinth, das katalanische Geschichte in sich
trägt. Die kleine Plaza del Rey, einstmals Hof des königlichen Palastes, säumt
der einzig erhaltene Flügel, überragt vom Mirador del Rey Mantín, einem massiven
Turm, beleuchtet durch eine fünfstöckige Galerie. Gegenüber der alten königlichen
Kapelle Santa Agueda birgt der Renaissance-Palast der Vizekönige die Archive
der aragonischen Krone, wohingegen das städtische Geschichtsmuseum die Erinnerungen
an das tägliche Leben und an die Heldentaten der Stadt aufbewahrt. Diese katalanische
Gedenkstätte abseits des Rummels ist Treffpunkt junger Leute, die man oft auf
den Stufen des Palasts beim Lesen oder Singen erlebt. Aber das wirkliche politische
Zentrum liegt woanders, nämlich auf der Plaza Sant Jaume (San Jaime), wo sich
die rechtwinkligen Achsen der römischen Stadt kreuzen. Dort stehen sich zwei
Bauwerke gegenüber, welche die beiden, die Stärke Barcelonas ausmachenden, Mächte
versinnbildlichen: Stadt und katalanisches Fürstentum. Das Rathaus - ajuntament
auf Katalanisch und ayuntamiento auf Kastilisch genannt - hat sich seinen geräumigen
gotischen Saal bewahrt, wo der mittelalterliche Stadtrat tagte, der Rat der
Hundert. Was den im Flamboyantstil gehaltenen Palacio de la Generalitat betrifft,
so war dieser bis Anfang des 18. Jahrhunderts - und wird es heute wieder - Sitz
der katalanischen Institutionen. Auf der Seitenfassade scheint das Bildnis des
heiligen Georg (Sant Jordi), Schutzheiliger Kataloniens, das Recht eines Volkes
auf Selbstregierung geltend machend.
Während des Goldenen Zeitalters der Stadt haben Händler und Reeder prächtige
Paläste errichtet, deren Strenge Doppelfenster mit schlanken Säulen, ausgedehnte
Höfe, auf denen sich die Treppe gradlinig emporschwingt, und bizarre, sich gegen
den Himmel abhebenden Wasserspeier mäßigen. Die Kirchen vervollständigen das
anziehende Gesicht des mittelalterlichen Viertels und seiner ehemaligen Vororte:
Sant Paul del Camp (San Pablo del Campo auf Kastilisch), einst »im Felde«, von
der Stadt zurückgezogen, mit ihrem ruhevollen romanischen Kreuzgang, Santa María
del Mar, deren Fassade eine wundervolle gotische Rosette ziert, und noch andere
mehr, treten hinter der Kathedrale zurück, deren Türme über den Dächern aufragen.
Da sie sich von der ortsüblichen Tradition eines geräumigen und einladenden
Einzelschiffs befreien wollten, zogen die Architekten hier den französischen
Stil mit mehreren Schiffen; und das ist ein wenig schade, mag der Besucher im
Halbschatten denken, wenn er für die einladende Wirkung der großen gotischen
Kirchenschiffe empfänglich ist, die sowohl in Katalonien als auch im benachbarten
Languedoc ansonsten so beliebt sind.
Das Leben im Barrio Gótico ist nach wie vor höchst geschäftig. In seinen dunklen
Tavernen flackert oft wie eine Einladung das tanzende Feuer des cremat(2), die
erwartungsvollen Gesichter hell erleuchtend. Boutiquen und Kunstgalerien schießen
dort wie Pilze aus dem Boden, wobei Maeght die exklusivste von allen eröffnet
hat, einen Katzensprung vom Picasso-Museum entfernt, carrer de Montcada (um
nicht zu sagen calle). Ein Palais enthält jene Gemäldesammlungen, die der Stadt
Barcelona entweder direkt übergeben worden sind oder durch Vermittlung des Vertrauten
und Sekretärs Jaime Sabartes. Die ergreifendsten Stücke sind die aus den frühen
Phasen: die blaue und die rosa Periode fielen mit dem Aufenthalt des genialen
Malers aus Málaga in der katalanischen Hauptstadt zusammen, bevor er nach Paris
entschwand. In dieser Verklärung der Armut sind die Einflüsse Barcelonas von
entscheidender Bedeutung gewesen: die der unmittelbaren Umgebung, der zwielichtigen
Kneipen und des Tingeltangels, der jämmerlichen Gaukler der Volksfeste, aber
auch neben anderen die Spuren des katalanischen Malers Isidro Nonell, der zu
diesem Zeitpunkt mitten in einer Schaffensperiode steckte. Ein Spaziergang zum
Museum für moderne Kunst, das im Park der Zitadelle eingerichtet ist, erlaubt
uns, den Vergleich voranzutreiben. Man stößt dort auf das Vermächtnis der ortsansässigen
Schulen, welche sich der Gunst der katalanischen Bürger erfreuten, unter denen
sie Abnehmer fanden, bis hin zur tragischen Abstraktion von Antonio Tapiès.
Abschließend begeben wir uns zum Ursprung der katalanischen Kultur, zum Museum
für katalanische Kunst an den Hängen des Montjuich mit seinen Schätze aus dem
Mittelalter. Die Begegnung vor allem mit der romanischen Malerei wird unvergeßlich
bleiben. Fresken aus zahlreichen pyrenäischen Kirchen hat man hierhin verfrachtet.
Befreit vom umhüllenden Halbschatten heben sich ihre stilisierten Figuren heftig
von ihrer Umgebung ab, mit ihren von breiten, ungenierten Zügen untermalten
Gesichtern, nach der Art gewisser japanischer Grafiken - mit dem Unterschied,
dass sich hier die Ungezwungenheit des Künstlers auf das Heilige bezieht. Auge
in Auge mit dem Pantokrator - dem thronenden Christus - von San Clemente de
Tahull zu stehen, ist der Höhepunkt einer Entdeckung, zu der Barcelona die einzigartige
Gelegenheit bietet. Von da aus erlaubt uns ein Spaziergang auf den Höhen des
Montjuich, die würzige Seeluft zu atmen. Das gewaltige Stadion nimmt an Wettkampftagen
die Massen der Zuschauer auf, während die Rasenflächen und Alleen den Anhängern
des Dauerlaufs und der improvisierten Fußballspiele überlassen sind. Genau dort
ist auch die Joan Miró-Stiftung in einem zweckbetonten Gebäude von strenger
zeitgenössische Architektur untergebracht, und in dem die farbenfrohen Bälle
des katalanischen Malers tanzen. Von den Festungsterrassen aus sollte man sich
nicht den Sonnenuntergang über dieser ungezähmten Stadt entgehen lassen. Sie
war es, die das Kastell anlegen ließ: als Verteidigungsanlage während der Revolte
von 1640. Später aber wurde es zum Symbol ihrer Unterdrückung, als die Kanonen
donnerten, um sie einzuschüchern, oder als 1909 das Blut der standrechtlichen
Exekutionen in die Gräben floß, vor allem aber 1939 nach dem Sieg der Anhänger
Francos.