Solo Madrid es Corte

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Solo Madrid es Corte

Vor der aristokratischen Vergangenheit Barcelonas nimmt sich Madrid ein wenig
wie ein Emporkömmling aus. Bei Gelegenheit hat ihre Rivalin es sie spüren lassen,
indem sie sich über ihren Schutzpatron lustig machte, einen unbekannten Landarbeiter
namens San Isidro. Die Madrilenen machen sich ein Vergnügen daraus, ihre Ironie
an sich selbst anzuwenden, und sind sich nicht zu schade, an die bäuerlichen
Ursprünge ihrer Stadt zu erinnern, symbolisiert durch den Bären und den Erdbeerbaum,
die ihr Wappen zieren. Mit einem Schuß Koketterie ist die Hauptstadt Spaniens
nie zum Rang einer ciudad aufgestiegen, sondern begnügte sich damit, das Dorf,
das sie ursprünglich war, zu bleiben und nennt sich daher villa y Corte. Da
haben wir es auch schon: da sie Sitz des Königshofes ist, identifiziert sich
die Stadt stark damit und fordert, dieses Mal stolz, in ihrem Sinnspruch: solo
Madrid es corte (Nur in Madrid gibt es einen Königshof). In der Tat verdankt
sie alles den Launen eines Prinzen, denn ihr Schicksal wurde 1561 besiegelt,
als Philipp II. sie zum festen Regierungs- und Verwaltungssitz erhob.

Im alten Madrid der Habsburger, dank eines beschleunigten Wachstums überstürzt
gebaut, ist das Gassengewirr, in dem noch die Schatten von Cervantes und Lope
de Vega umherirren, noch gut erhalten. In kleinen, bescheidenen Läden sind alle
möglichen Handwerksberufe vertreten, und in den traditionellen Geschäften der
Calle de la Cruz sind die spanischen Umhänge zu erstehen, die einen jeden in
einen Hidalgo verwandeln. Diese alten, eng angelegten Stadtviertel geizen mit
freien Flächen. Am Ende einer dieser engen Gassen, die zur Plaza Mayor führen,
verblüfft uns die plötzliche Entdeckung des weiten Vierecks einen Moment lang.
Zu Beginn des 17. Jahrhunderts wurde dieser eindrucksvolle Ort unter Philipp
III. in das städtische Gewebe eingefügt, ohne sich irgendwelche Gedanken um
den Anschluß an das existierende Straßensystem zu machen. Der Platz mit seinem
Parkhaus darunter ist nunmehr Fußgängerbereich. Auf seinen Steinplatten oder
unter den umgebenden Granitbögen verweilend, bleibt es jedem freigestellt, sich
vorzustellen, wie der König und sein Hof von an den Fassaden angebrachten Eisenbalkonen
herab Turnieren, Stierkämpfen oder Ketzerverbrennungen beiwohnten. Eine unwirkliche
Insel der Vergangenheit lädt zum Träumen ein auf der Terrasse eines der Cafés.
In unmittelbarer Nähe des Santa Ana Platzes, ein jederzeit belebter Treffpunkt.
Was läßt sich über die Puerta del Sol sagen? Dieser Halbkreis, an dem die wichtigsten
Straßen zusammenlaufen, kommt dem Besucher vielleicht gewöhnlich vor; die Madrilenen
aber sehen ihn mit anderen Augen, diesen Versammlungsort der Stadt, an dem alle
Neuigkeiten zuerst kursieren, jenen symbolträchtigen Punkt, an dem ein Grenzstein
markiert, wo angeblich alle Straßen Spaniens zusammenlaufen, diese Fläche voller
heldenhafter Vergangenheit. Im alten Madrid, dessen Grundriß sich seit dem Goldenen
Zeitalter kaum verändert hat, mußte erst das 20. Jahrhundert anbrechen, damit
eine breite Schneise gezogen wurde. Diese unter der Diktatur Primo de Riveras
verwirklichte Gran Vía rahmen anmassend schwerfällige Häuser ein, von denen
sich der pharaonische Palacio de Comunicaciones abhebt. Nachts wird das Spektakel
fantastisch, wenn die Riesenplakate der Kinos mit den rhythmischen, die Dunkelheit
zerreißenden Leuchtreklamen in Wettstreit treten.

Im 18. Jahrhundert strebten die Bourbonen, allen voran Karl III., der aufgeklärte
König, danach, einen der Hauptstadt würdigen Städtebau zu fördern. Das Madrid
der Aufklärer dehnte sich nach Osten aus; begonnen wurde mit dem Durchbruch
einer ungewöhnlich breiten Durchgangsstraße, dem Paseo del Prado zwischen Altstadt
und Park El Retiro. Er wurde sofort zum Treffpunkt der mondänen Gesellschaft
jener Zeit und bildete den Anfang einer Achse, die im folgenden Jahrhundert
durch die Castellana verlängert wurde. Von schattigen Alleen gesäumt, mit Parks
und gewaltigen Springbrunnen verziert - die berühmtesten werden vom Streitwagen
Neptuns und dem Löwengespann der Kybele überragt - bescheren diese paseos eine
königliche, immer noch großartige Perspektive. Neben den öffentlichen Gebäuden,
unter ihnen das Prado-Museum, die Nationalbibliothek und die Hauptpost - auf
der eine Unzahl von Türmchen sprießt - drängten sich die Paläste der Adligen
im 19. Jahrhundert, die Anfang der sechziger Jahre unseres Jahrhunderts abgerissen
wurden, um Konstruktionen von überheblicher Gigantomanie zu weichen. Dieses
madrilenische Manhattan streckt seine mit Glas und Stahl verkleideten Silhouette
in den erstürmten Himmel. Den Betrachter beschleicht das Gefühl, einer Titanenschlacht
beizuwohnen, wo sich der Turm des Centro Colón abzeichnet, der die Christoph-Kolumbus-Statue
zu seinen Füßen wie die eines Lilliputaners erscheinen läßt.

Als Sitz des Hofes birgt Madrid zahlreiche Schätze. Mehrere Stunden des Staunens
erwarten den Besucher im Prado-Museum, das auf den königlichen Sammlungen aufbauen
konnte. Karl V., der Tizian zu seinem Hofmaler ernannte, hinterließ eine Reihe
von Gemälden, in der sich Sinnlichkeit und Macht nicht ausschließen. Wir verdanken
es dem neugierigen Interesse Philipps II. für Hieronymus Bosch, in den Garten
der Lüste »einbrechen« zu können, auf die Gefahr hin, darin gefangen zu bleiben.
Wenn man die unvergleichliche Sammlung spanischer Malerei angeht, stehen einem
wenigstens drei packende Begegnungen bevor: El Greco, der Maler aus Kreta, der
nach einem Aufenthalt in Italien kam, um die Gunst Philipps II. zu erlangen
und der, verachtet, in Toledo sein ungewöhnliches Genie entfaltete; Velázquez
aus Sevilla, Hofmaler Philipps IV. und Palastverwalter, der auf einen Schlag
die spanische Malerei auf den Höhepunkt westlicher Kunst führte; und das ungeschliffene
Genie Goyas. Wer hält da nicht den Atem an, wenn er sich diesen Schöpfungen
nähert? Niemand wird enttäuscht zurückkehren von der Begegnung zwischen Mythos
und körperlicher Wirklichkeit ihrer Bilder, auf denen man den gewundenen Pinselstrich
beim Kreter wie eine Flamme und beim Aragoner als herrschaftlich und energisch
empfindet. Was Velázquez angeht, so muß man ihm erst die oberflächliche Maske
des Hofmalers herunterreißen. Von allen dreien ist er es, der bei Reproduktionen
am schlechtesten wegkommt, da sie ungeeignet sind, den Raum seiner großen Kompositionen
wiederzugeben sowie die Schwingungen ihres farbenfrohen Lichtspiels. Im Prado
bietet sich Gelegenheit, in den Wald der Lanzenreiter vorzudringen oder ins
Spiel der Spiegel, das den Meninas von Velásquez ihre beunruhigende Tiefe verleiht.

Einige Schritte vom Prado entfernt befindet sich im Casón del Buen Retiro -
das ist alles, was vom Palast Philipp IV. übrigblieb - Picassos Guernica, Aufschrei
der Seele und des Körpers gegen die Barbarei. Das berühmteste Gemälde des 20.
Jahrhunderts war mitten im Bürgerkrieg für den spanischen Pavillon bei der Weltausstellung
von 1937 in Paris von der republikanischen Regierung in Auftrag gegeben worden.
Nachdem es lange Zeit in New York Zuflucht gefunden hatte, erhielt es hier nach
mühsamen Verhandlungen und heftigen Debatten im Jahre 1981 seinen Platz. Es
steht heute immer noch im Kreuzfeuer der Kritik, weshalb diese Apokalypse, in
der Gott abwesend ist, nur durch eine kugelsichere Scheibe zu betrachten ist,
und auch erst, nach Unterziehung einer Leibesvisitation, um einem möglichen
Attentat von Seiten der getreuen Anhänger des »braunen Europas« vorzubeugen.

Aber die Madrider Schätze sind nicht nur im Prado anzutreffen. Die Akademie
der Schönen Künste von San Fernando bewahrt einige ausgesuchte Werke auf: Mönchporträts
Zurbaráns, von einer innigen Feierlichkeit, sowie mehrere recht drastische Bilder,
auf denen Goya die Gesichter eines fratzenhaften Spaniens beschwört, wie z.B.
beim Gericht der Inquisition und beim seltsamen Begräbnis der Sardine, zu dem
ihn die Karnevalsfolklore Madrids inspirierte. Dort befindet sich auch der Traum
des Edelmanns, eine barocke Vanitas von Pereda, auf dem sich die Desillusion,
der desengaño, fortsetzt, dieser Augenblick in einem, von seinen Träumen von
Ruhm enttäuschten, Spanien gegen Ende des Goldenen Zeitalters. Aber man könnte
Goya nicht gerecht werden, ohne sich in der Einsiedelei von San Antonio de la
Florida zu erholen; in dieser bezaubernden Kapelle, in der er heute ruht, plaziert
die runde Freske, welche die perspektivisch gemalte Kuppel umgibt, über unseren
Köpfen die vertrauten und urwüchsigen Silhouetten der kleinen Leute Madrids.
Im Archäologischen Nationalmuseum, im Gebäude der Nationalbibliothek dämpft
eine Nachbildung der Grotte von Altamira die Enttäuschung darüber, dass das Original
seit der Schließung für die Öffentlichkeit nicht mehr zu besichtigen ist. Absolut
authentisch dagegen sind die Dame von Elche, eine bezaubernde heidnische Madonna,
und die mächtigen Votivkronen der westgotischen Könige, deren getriebenes Gold
Schmuckstücke aus Edelsteinen einfaßt. Wenn der Besucher dann noch nicht erschöpft
ist - oder anläßlich einer zweiten Reise - bleiben ihm noch die renommierten
Sammlungen des Lázaro Galdiana-Museums, die im herrschaftlichen Privathaus dieses
Mäzens gezeigt werden, der dort mit einem verfeinerten Eklektizismus Emaille-
und Goldschmiedearbeiten, edles Mobiliar und wertvolle Gemälde angesammelt hat.

Westlich der Altstadt der königliche Palast, welcher sinnigerweise den Namen
Palast des Ostens trägt! Dieser imposante viereckige Bau über dem Tal des kümmerlichen
Manzanares wurde im 18. Jahrhundert auf den Überresten des alten Alcazars errichtet,
der maurischen Ursprungs war und durch ein Feuer vernichtet wurde. Da König
Juan Carlos ihm den vertrauteren Rahmen der Zarzuela im Norden der Stadt vorzieht,
finden hier offizielle Prunkveranstaltungen nur noch zu seltenen Gelegenheiten
statt. Der Öffentlichkeit sind daher die Prunkgegenstände des Hoflebens weitgehend
zugänglich, die im erlesenen Salon mit Porzellan aus der ehemaligen Manufaktur
des Retiro ihren Höhepunkt finden; aber vor allem auch in der hohen Decke des
Thronsaals, wo der venezianische Maler Tiepolo dem Triumph der spanischen Monarchie
Flügel verleiht. Dort schillern, in einem üppigen Nebeneinander, Blumen, Früchte
und Bewohner aus allen Teilen der Erde. Die Waffensammlung in der, an den Palast
angeschlossenen, Real Armería steht jener im Londoner Tower in nichts nach:
in den ziselierten Waffen Karls V. glimmt das Feuer kaiserlicher Majestät.