Madrid und die Movida
Madrid und die Movida
Madrid genießt noch eine weitere königliche Gunst, nämlich die für Spaziergänger
ein ganz besonderes Vergnügen bildenden Parks. Die riesige Casa de Campo, jenseits
des Manzanares, ist Schauplatz von Sporttraining und Picknicke, ebenso von großen
Volksveranstaltungen und in regelmäßigen Abständen Jahrmärkte. Der Retiro wirkt
vertrauter und diente, wie sein Name schon andeutet, früher als Refugium des
Hofes: warum nicht auf seinem Teich rudern, neben dem sich ein entzückender
Glaspavillon erhebt, oder auf einer Bank noch einmal die Klassiker lesen? Kinder
toben die Alleen entlang; Verliebte verabreden sich in der Nähe der Statuen;
junge Leute wiegen sich zum Rhythmus ihrer Rockkassetten, vor denen die Tauben
fliehen. Der Müßiggang ist König im Retiro, der seinen Namen noch nie so zu
Recht getragen hat.
Anderswo herrscht Ruhelosigkeit, die eine früher eher steife Stadt ergriffen
hat. Ihre traditionellen Funktionen erhielten neue Impulse. Die politische Hauptstadt
hallt von all den Debatten einer wiedergefundenen Demokratie wider, unter dem
sanftmütigen Blick der Bronzelöwen, die den Eingang zu den Cortes flankieren,
einen Katzensprung vom Neptunbrunnen entfernt; im alten Intellektuellenclub
El Ateneo herrscht ständig Betriebsamkeit, und bei Gelegenheit finden dort Straßenveranstaltungen
Platz genug, um sich großzügig auszubreiten. Madrid ist aber auch die Hauptstadt
des Kapitals; so haben dort vier der sieben großen, die Wirtschaft des Landes
beherrschenden, Banken ihren Hauptsitz. Der Besucher sollte sich mal deren babylonische
Gebäude in der Calle de Alcalá anschauen. Die Stadt erhielt Aufwind durch die
Ansammlung ausländischen Kapitals und die Eröffnung eines größeren Bewegungsspielraums.
Aber Madrid ist inzwischen auch das geworden, was es nie zuvor gewesen ist,
und zwar Anziehungspunkt für die Industrie, deren Aktivitäten ein Kranz von
Satellitenstädten haben entstehen lassen, wie Carabanchel, Getafe, Leganés,
usw. Indem Franco diese Niederlassungen förderte, um ein Gegengewicht zum eigensinnigen
Barcelona zu bilden, hatte er dort widerstrebend das Zutagetreten einer vielfältigeren
Gesellschaft ermutigt, die auch unabhängiger vom Staat war, wie die daraus hervorgegangenen
sozialen Unruhen zeigten.
Sowie das enge Korsett des autoritären Regimes geplatzt war, ergriff ein Wirbel
der Kreativität die Stadt, die bald zu einer der erfinderischsten Europas wurde.
Der Zulauf an Talenten aus allen Winkeln des Landes vermischte sich mit der
Rückkehr politischer Emigranten sowie dem Zustrom lateinamerikanischer Intellektueller,
die in Madrid oft mehr sprachliche Ähnlichkeiten fanden als in Barcelona. Dieser
Cocktail, versetzt mit dem Aufstieg einer neuen, sich rasch von den vorgeformten
Ideen befreienden Generation, fand ihren Alchimisten in der Person des ersten
Bürgermeisters, den die Madrilenen zu wählen hatten, und zwar im Jahre 1979:
des »alten« Professors Tierno Galván, eines hartnäckigen Gegners des Franco-Faschismus.
Unter seinem Schutz änderte sich Madrid von Grund auf: die blinden Mauern in
alten Stadtteile schmücken sich mit bunten Kompositionen, die im Vorübergehen
wie ebensoviele verstohlene Blicke wirken; Konzerte finden an oftmals ungewöhnlichen
Orten statt; die Feste in den einzelnen Stadtvierteln finden ihren enthusiastischen
Schwung wieder, wobei der Bürgermeister sich nie lange bitten läßt, wenn es
ums Mitmachen geht. Seine bandos - Verfügungen der Stadt - bildeten, egal wie
das Thema hieß, wegen ihres gezierten, bisweilen albernen Stils das Vergnügen
unzähliger Leser. Nach seinem Tode im Jahre 1986 erwies eine riesige Menschenmenge
demjenigen, der ihnen ihre Stadt zurückgegeben hatte, die letzte Ehre.
Das kulturelle Leben Madrids, lange Zeit eingeschränkt, fand in allen Richtungen
einen Durchbruch. Verschiedene Orte haben sich der Avantgarde geöffnet, wie
beispielsweise das Kulturzentrum der Stadt an der Plaza de Colón und vor allem
das Zentrum für moderne Kunst »Königin Sophia« im ehemaligen, wundervoll restaurierten
Krankenhaus von Atocha, das die Madrilenen schon bald spöttisch »Sofidou« nannten,
in Anlehnung an das Centre Georges Pompidou in Paris. In einigen Jahren schwang
sich Madrid endlich zu dem Rang einer Hauptstadt für zeitgenössische Kunst auf:
jedes Jahr im Februar treffen bei der ARCO, der internationalen Kunstmesse,
die neuesten Stilrichtungen aus Europa auf die der Neuen Welt. Die unterschiedlichen
Musikrichtungen bilden mit einem ebenso kosmopolitsche Züge tragenden Herbstfestival
eine Art Echo zu dieser Ausstellung. Dieses kreative Fieber geht über die sogenannten
edlen Künste hinaus und greift auf Fotografie, Kino, Comic Strips, Mode, usw.
über. Einer neuen Generation unkonventioneller Modeschöpfer ist es gelungen,
eine ungezwungene Richtung zu diktieren, die über die Grenzen hinaus Furore
machte: so bricht der Galicier Adolfo Domínguez das stereotype männliche Bild,
indem er den provokativen Slogan einführt: »Zerknittert ist schön« (»La arruga
es bella«); das explosive Naturkind Agatha Ruiz de la Prada schlägt den Frauen
ein spannungsgeladenes Cocktail vor, das eine Mischung darstellt aus den Farbforschungen
der Maler, bühnenmäßiger Übertreibung und den Techniken des Happenings, was
sich z.B. durch das Verspritzen von Farbe auf die Kleider der Mannequins mitten
in einer Modenschau äußert! Die Mode, ständiges Werden, verleiht vortrefflich
diesem Heißhunger auf Bilder Ausdruck, der Madrid wachhält, auf der Suche nach
dem noch nie Dagewesenen.
Man könnte glauben, diese Furore machende Madrider movida habe in ihrer Turbulenz
den Hort anachronistischer Traditionen hinweggefegt, die den Geist des castizo
ausmachen - Ausdruck seiner unverwechselbaren Identität. Aber es kam anders.
Die ganze veraltete Volkstradition, lange Zeit von den progressiven Intellektuellen
verachtet, wurde mit besitzergreifendem Eifer wiederbelebt. Nichts ist besser
dazu geeignet, um sich davon überzeugen zu lassen, als der sonntägliche Besuch
des rastro. Ein Menschenstrom kämpft sich durch die enge Ribera de Curtidores,
unterhalb der Plaza Mayor. Unsere Flohmärkte vermitteln uns nur einen schwachen
Eindruck von jenem Chaos, das dort jeden Sonntagmorgen Einzug hält. An den Verkaufsständen
im Freien wie im Laden, in den angrenzenden Straßen und auf den Höfen, wo sich
die Antiquitätenhändler versammeln - überall herrscht ein einziges Kaufen und
Verkaufen: Alteisen und barocke Chorpulte, Ramsch und alte Manuskripte, Lumpen
und antiquarische Gemälde ... Man sollte sich besser nicht fragen, welche dunklen
Geschäfte da oft vorausgingen! Gut möglich, dass jemand sein unvorsichtigerweise
im Wagen gelassenes Autoradio dort wiederfindet; aber woher stammen dieses Retabelfragment
und jenes Archivdokument? Alles ist möglich beim rastro, wenn man sich von der
Menge mitreißen läßt. Ebenso verhält es sich mit den zentralen Orten des Nachtlebens,
beliebter als je zuvor. Ganz nach Laune wird man eine cubata trinken gehen (umgangssprachlich
für cuba libre, Rum mit Coca-Cola) inmitten dauerhafter und vorübergehender
Berühmtheiten, die das Café Gijón heimsuchen, oder sich im Gedränge an einen
der Tische auf den unzähligen Terrassen niederlassen, mit denen die Castellana
überschwemmt wurde - es sei denn, man unterwirft sich dem hochheiligen Brauch
des tapeo, diesem nächtlichen Bummel, den man am besten zu mehreren unternimmt,
durch die Kneipen in der Nähe der Plaza Mayor oder der Puerto del Sol, in denen
es genügend zu essen und zu trinken gibt. Wer dann noch Kraft genug besitzt,
um die Nacht bis in den nächsten Tag hinein zu verlängern, mache sich doch einmal
auf, um das alte Viertel von Malasaña zu entdecken, vor kurzem noch verlassen,
aber nun von einer Jugend als Wohnsitz gewählt, die heute nicht weiß, was morgen
sein wird, blindlings in die Wogen der Zeit geworfen.
In dieser unvollendeten Stadt, die mit Volldampf auf das Jahr 2000 zurast,
bietet aber auch Raum für Nostalgie. Die Stierkampfarena von Las Ventas ist
bei jedem Kampf voll besetzt. Es fehlte etwas an Farbe bei den Festen ohne die
Anwesenheit der madrilenischen Typen, machos oder manolos, mit ihren Karomützen,
und ihren Gefährten, welche Mantille oder bestickte Tücher zur Schau stellen.
Ihnen ist es zu verdanken, dass die Tradition des chotis wieder auflebt, der
spanischen Fassung des schottischen Tanzes, den sie zum Klange des elektrischen
Klaviers zum besten geben, indem sie sich wie mechanische Kirmespuppen drehen,
mit dieser »Mischung aus Prahlerei und Ungezwungenheit«, wie einmal jemand so
treffend beobachtet hat. Bis hin zur Zarzuela, die ihre Anhänger wiedergefunden
hat, während noch vor kurzem diese leidenschaftlichen Melodien nur in den Köpfen
der Siebzigjährigen überlebt hatten, Anwandlungen von Jugendlichkeit ausgesetzt.
Es ist wahr, dass Teresa Berganza und vor allem Plácido Domingo jenes Genre nie
verleugnet haben, das sie zum Gesang hingeführt hat: das Publikum stürmt in
Theater, die diese Art von Operetten ankündigen, welche aus einem fast zehntausend
Nummern umfassenden Repertoire geschöpft werden. Vielleicht deshalb, weil die
besten Zarzuelas dem Charme der Vergangenheit eine unwiderstehliche Lebensfreude
hinzufügen - natürlich in Madrid.
»Madrid me mata« (»Madrid bringt mich um...«) stöhnen die Fanatiker in dieser
alles verschlingenden Stadt voller Verzükkung. Die unmittelbare Umgebung, von
einer ungebremsten Urbanisierung zerfressen, trägt Narben davon. Zum Glück hat
es ein sich von dieser rastlosen Fieberhaftigkeit erschlagen fühlender Besucher
nicht weit, um wieder Atem zu schöpfen; allerdings nur, wenn er weiß, wie er
das Wochenendgewühl meidet! Im Winter glitzern die Schneefelder des Navacerrada
am Horizont. Das ganze Jahr über sind Toledo und der Escorial in greifbarer
Nähe. Und der Prunk des Hofes steht dem Erholungssuchenden in den sitios reales,
den zeitlosen königlichen Residenzen um Madrid herum, zur Verfügung: von La
Granja, dem Klein-Versailles in den Bergen, erbaut von Philipp V., dem aus Frankreich
stammenden König, bis hin zur grünen Oase von Aranjuez, wo sich an den Ufern
des Tajo entlang der rosa Palast erstreckt, dieses Schmuckstück, das la Casa
del Labrador nun einmal ist, mit seinen Alleen und Gärten, in denen überall
Springbrunnen plätschern.