Das moderne Barcelona

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Das moderne Barcelona

Nun bleibt uns noch übrig, ein anderes Barcelona zu entdecken, ein immenses
Schachbrett nach dem Muster amerikanischer Städte, entstanden aus dem ehrgeizigsten
Erweiterungsprojekt, das es im 19. Jahrhundert in Europa gab. Dieser ensanche
(Ausbau) sollte die explosionsartige Ausdehnung der Stadt regeln, die im Gefolge
einer bereits im 18. Jahrhundert mit den ersten Baumwollfabriken beginnenden
Industrialisierung einsetzte. Man hielt am Grundriß des Ingenieurs Cerdá fest,
der sich ein regelmäßiges Gitternetz von einheitlichen Häuserblocks mit einer
Seitenlänge von 113 Metern vorstellte, getrennt durch zwanzig Meter breite Straßen.
Das Ganze war auf zwei große, im rechten Winkel aufeinander zuführende Zufahrtsstraßen
ausgerichtet, die Gran Vía, parallel zum Meer, und den paseo de Gracia (passeig
auf Katalanisch), der das gleichnamige Dorf mit der ehemaligen Stadt verband.
Zwei Querlinien lockern die Strenge des Grundrisses etwas auf: der unterhalb
des Montjuic verlaufende Paralelo, so getauft, weil er dem Breitengrad folgt
- heute das Viertel der Varietés und anderer nächtlicher Zerstreuungen - und
die Diagonal; auf diesem fünfzig Meter breiten und acht Kilometer langen Triumphweg
kann man die ganze Stadt durchqueren. Der Cerdá-Entwurf sah eine schwache Wohnraumdichte
und viele Grünflächen vor und verstand sich als Grundstruktur einer harmonischen
Stadt. Aber Bodenspekulationen, das Machtstreben des katalanischen Bürgertums
und die Vorliebe fürs Monumentale entstellten seine ursprünglichen Vorstellungen
durch einen erstaunlichen Modernismus.

Glücklicherweise verband sich im Barcelona der Jahrhundertwende die Versuchung
durch das Kolossale recht oft mit architektonischer Kühnheit. Eine Gruppe katalanischer
Architekten erhielt wichtige Aufträge, unter ihnen Puig i Cadafalch, Domènech
i Montaner - Schöpfer des besonders originellen Hauses für katalanische Musik,
mit dem märchenhaften, luxuriös ausgestatteten Konzertsaal - und allen voran
natürlich Antonio Gaudí. Man ist verwirrt darüber, dass dieser Visionär große
Gebäude in der Passeig de Gracia anvertraut bekam, der stattlichsten Schlagader
der Stadt: la Casa Batlló (Nr.43) und vor allem la Casa Milá (Nr. 92), bekannter
unter dem Namen La Pedrera, ein riesiges Mietshaus, dessen Fassade von den Kräften
der Erde bearbeitet zu sein scheint. Man sollte auf keinen Fall einen Besuch
des Palacio Güell mit seinem sehenswerten Theatermuseum auslassen, nur eine
Sekunde von den Ramblas entfernt, und insbesondere den Güell Park im Westen
der Stadt, an den Hängen des Tibidabo: in diesem öffentlichen Park, eigentlich
vorgesehen als Herzstück einer unvollendeten Gartenstadt, sind stufenförmige
Terrassen angelegt, von gewundenen, Brüstungen bildenden Bänken umrahmt, eingefaßt
von bunten Keramikscherben, von wo aus man einen beneidenswerten Blick über
die ganze Stadt genießt. Dort befindet sich auch eine Krypta mit schiefstehenden
Pfeilern: der verblüffte Besucher läßt sich nur schwer davon überzeugen, dass
diese scheinbare Verrücktheit überhaupt der Logik des Gleichgewichts zwischen
Formen und Materialien gehorcht. So ist eben Gaudí, den man nicht nur vom Eindruck
der Fassaden her beurteilen sollte, nach deren pflanzlichen Vorsprüngen und
ihrer Verzierungen, zu der Skulpturen, Kunstschmiedearbeiten und Keramik beitragen:
Dekor ist für ihn das Aufblühen einer Struktur, die er gerne versteckt. Von
allen seinen Werken ist die Sagrada Familia - bisher unvollendet - das meistbesichtigte,
das zugleich verwirrt und fasziniert nach Art einer Traumvision.

Lange Zeit war die Dynamik Barcelonas Antrieb für ein zurückgebliebenes Spanien.
Seine glänzende Fassade erstreckt sich ohne Komplex den Passeig de Gracia und
die Diagonal entlang, von Banken, Reisebüros und den Niederlassungen multinationaler
Unternehmen erobert. Dieses fieberhafte Wachstum der Stadt hat viele Einwanderer
angelockt: in weniger als zwanzig Jahren, von 1953 bis 1970, kam eine halbe
Million aus Aragonien, der Levante, aber vor allem aus Andalusien. Um diese
»neuen« Katalanen zu erkennen, genügt genaues Hinhören. Sehr rasch wird man
dann das lispelnde Spanisch der Andalusier von der katalanischen Sprechweise
unterscheiden, bei der die Einheimischen gewaltig nuscheln. Verpassen Sie weiterhin
nicht in den durchwachten Nächten der Feste, auf der Plaza de Cataluña, an der
Nahtstelle von Altstadt und ensanche, wie sich der Reigen der Sardana langsam
dreht, begleitet vom rhythmischen Klatschen katalanischer Hände - während andere
Zuschauer ihre Hände in den Hosentaschen behalten ... Dieser Einfall aus dem
Süden hat Barcelona überflutet, so dass nur mit großer Mühe Platz für die Neubürger
geschaffen wird; an den Hängen der Hügel in der Peripherie ist eine zusammengewürfelte,
wilde Wohngegend entstanden, aus chabolas und barracas bestehend, mehr schlecht
als recht von wahllos verstreuten Wohnblocks in abstoßenden Vororten abgelöst,
etwa denen sich im Norden ausbreitenden »neuen« Stadtteilen. Erst in der zweiten
Generation können sich diese »Neu-Katalanen« integrieren - ohne dafür ihre Wurzeln
zu vergessen.

Die gestreßte und unersättliche Hauptstadt erweckt manchmal das plötzliche
Verlangen, aus ihren Mauern auszubrechen. Nichts einfacher als das, denn der
Aufstieg zum Tibidabo dauert nur einige Minuten. Die Drahtseilbahn gestattet
einen Blick über die aufs Meer gerichtete Stadt in ihrer ganzen Ausdehnung,
über den Wald hinweg, der die Berghänge bedeckt. Auf dem Gipfel wird die Weite
des Horizonts von weiteren Vergnügen begleitet: frische Luft füllt die Lungen,
die im Sommer unter der hohen Luftfeuchtigkeit in der Stadt leiden. Gruppen
junger Leute und Familien in Sonntagskluft steigen lärmend aus der Seilbahn.
Sie stellen ihre schweren Körbe neben den rustikalen Tischen ab, die über die
Kiefernwälder verstreut stehen, es sei denn, ihr Budget erlaubt es ihnen, sich
am Tisch eines der benachbarten Restaurants niederzulassen. Für einen Tag ist
die Arbeit dort unten vergessen. Der Tibidabo ist ein bißchen der Himmel über
Barcelona.