Das pluralistische Spanien
Das pluralistische Spanien
Historische Traditionen und Lebensgewohnheiten haben neben einer eigenen Sprache
auch ihren Teil dazu geleistet, den Charakter einer Region herauszubilden, den
diese einfach nur offen zeigen will, ohne dabei politische Ziele zu verfolgen.
Das gilt beispielsweise für Aragonien, dessen rauhe aber herzliche Bevölkerung
dichtgedrängt in der Ebroebene siedelt - zwischen den menschenleeren Hängen
der Pyrenäen und der Sierra de Teruel - und dabei die Erinnerung an ihre unabhängige,
bisweilen rebellische Vergangenheit bewahrte. Selbst Gegenden, die früher voll
in die kastilische Monarchie integriert waren, wie Murcia, Extremadura und natürlich
Andalusien, empfinden ihre mittlerweile in den autonomen Institutionen verankerte
Identität ganz deutlich.
Am Scheideweg dieser auseinanderdriftenden Teile Spaniens trifft man immer
wieder auf Kastilien, das sowohl geographisch als auch historisch betrachtet
an der Nahtstelle des Geschehens liegt, was sich positiv und auch negativ ausgewirkte:
»Kastilien hat Spanien geschaffen, aber auch geschafft«.. Der auf den Hochflächen
wie in einem verschanzten Lager lebende Urkastilier legt oft die Mentalität
eines Inselbewohners an den Tag: stolz darauf, über Brot aus selbstangebautem
Getreide und Wein von eigenen Reben zu verfügen, weiß er noch nichts vom Konsumteufel;
schon lange daran gewöhnt, die eigenen Bedürfnisse einzuschränken, findet er
auch Freude an Kleinigkeiten - an einem Gläschen Wein oder Brunnenwasser, beim
täglichen Plausch mit Freunden genossen. Der Armut begegnet er eher mit Zähigkeit
als mit Resignation, wobei er die Zähne zusammenbeißt, ohne jedoch eine Grimasse
zu schneiden. In die Misere getrieben, hat dieser häusliche Mensch oft das Abenteuer
gewählt, wobei er dann früher Ruhm auf den Schlachtfeldern Europas oder bei
der Eroberung Amerikas suchte. In jüngerer Vergangenheit bestand das Abenteuer
vielmehr in einer Beschäftigung in Bilbao, Paris oder Düsseldorf. Ist dieser
Wille, alles nur sich selbst zu verdanken und von anderen bis auf Respekt nichts
zu erwarten, als Stolz zu bezeichnen?
Fest steht jedenfalls folgendes: dafür, dass Kastilien mit seinen eigenen schon
lange existierenden Problemen so gut zurechtgekommen ist, eignete es sich immer
weniger dazu, seine Rolle als zentraler Stützpfeiler im Gebäude Spaniens zu
übernehmen. Mehrere kastilische Provinzen, wie z.B. Soria, Cuenca, Guadalajara
und Zamora, sind durch die einem Aderlaß gleichkommende Landflucht inzwischen
fast ausgeblutet, was der Ansturm auf Madrid nur noch verschlimmert. Der kräftige
Aufschwung mancher Städte, wie Valladolid, Burgos oder Salamanca glich die Entvölkerung
der ländlichen Gebiete teilweise aus. Im Zeitalter der regionalen Autonomien
hat Kastilien endlich seine eigene Persönlichkeit innerhalb Spaniens gefunden,
mit dem es sich eigentlich schon immer identifiziert hatte. Aber lokale Streitigkeiten
und politisches Kalkül führten zu einer Aufteilung in zwei Hauptregionen, und
zwar in Altkastilien-León im Norden - womit einige Bewohner Leóns gar nicht
einverstanden sind! - und Neukastilien-La Mancha im Süden.
Der maßlose Zentralismus während der Dikatur Francos, welcher alle Unterschiede
im Namen eines »einigen Spaniens«. unterdrückte, wich nun einem »Staat der Autonomien«.,
in dem regionale Merkmale weitgehend berücksichtigt werden. Bis zu einem gewissen
Grade achtet das Recht also wirklich existierende Verhältnisse, und nicht nur
irgendwelche theoretischen Vorstellungen. Es hängt nun von den endlich anerkannten
Regionen ab, den Beweis dafür zu liefern, dass sie fähig sind, über einen engstirnigen
Provinzialismus hinaus zu denken und ihren Teil zu einem pluralistischen Spanien
beizutragen, das sich dann vielleicht eines Tages zum föderalistischen Staat
wandeln könnte.