Galicien, Kap des Westens

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Galicien, Kap des Westens

Nicht nur die Geographie unterscheidet verschiedene Teilregionen Spaniens.
Die Lebendigkeit der Sprachen und der einzelnen Kulturen sowie der jeweilige
Lauf der Geschichte ließen ethnische Einheiten entstehen, die allen zentralistischen
Bestrebungen gegenüber feindlich gesonnen sind. So identifizierte sich das vor
urlanger Zeit ans Fürstentum von Léon und später an Kastilien angeschlossene
Galicien immer mit seinem eigenen, dem Portugiesischen verwandten Dialekt, den
der kastilische König Alfons der Weise durch die Komposition seiner Cántigas
de Santa María aufwertete. Die Landschaft Galiciens - geformt aus kesselförmigen
Tälern und Hochebenen aus Granitgestein - die langen Rias, durch die das Meer
weit ins Landesinnere dringt, sowie die Gesänge und Tänze, begleitet von der
scharfen Melodie der dudelsackartigen Gaitas, machen aus dieser Provinz ein
eigenes Universum, eine Art Ende der Welt am Rande der Halbinsel, wo das Kap
Finisterre (finis terrae) wie ein gigantischer Bug erscheint.

Da Galicien in winzige, in sich geschlossene Gebiete zerstükkelt ist, konnte
es lange Zeit die Lebensweise der Vorfahren bewahren. Der fleißige Kleinbauernstand
mußte das zum Leben notwendige aus bis ins kleinste unterteilten Feldern gewinnen;
deshalb spricht man hier auch von der Minifundio- oder Kleinstbesitzgegend par
excellence. Der ständige Gebrauch des Galicischen in den Siedlungen, auf dem
Markt und in den Tavernen stärkt das Zusammengehörigkeitsgefühl. Im letzten
Jahrhundert gelang es der berühmten Rosalía de Castro mit Hilfe ihrer Sprache,
dem Lebensgefühl ihrer Landsleute Ausdruck zu verleihen. Da das Galicische in
letzter Zeit wieder aufblüht, haben es auch die Intellektuellen für sich entdeckt
und zögern nicht, es an der Universität, bei Vorträgen und auf Veranstaltungen
anzuwenden.

Obwohl die Gallegos mit ruhiger Bestimmtheit zu ihrem Charakter stehen, haben
sie nie ihre enge Bindung an den Rest Spaniens aufgegeben, wobei die Landflucht
eine nicht zu unterschätzende Rolle spielt: von der Armut aus ihrem übervölkerten
Gebiet vertrieben, brachen sie lange Zeit jedes Jahr nach Kastilien auf, wenn
dort Landarbeiter gesucht wurden. Manche zogen auch nach Madrid, wo sie viele
der geringeren Tätigkeiten ausübten, bzw. wanderten oft gleich nach Amerika
aus, wo in keiner der bedeutenderen Städte ein Hogar gallego, ein galicisches
Zentrum, fehlt. Diese Nomaden und Entwurzelten lernten, sich auf Kastilisch
auszudrücken, das in Galicien selbst recht früh zur Sprache der Führungsschicht
aufstieg. So beschrieb beispielsweise der geniale Ramón del Valle-Inclán die
aus der galicischen Folklore hervorgegangenen Mythen und Figuren seiner bis
heute aussagekräftigen Dramen in der kastilischen Sprache. Galicien ist aber
trotz der Betonung des Eigencharakters auch äußeren Einflüssen gegenüber offen:
so deutet die neuere industrielle Entwicklung, insbesondere des Hafens von Vigo,
die Möglichkeiten dieses Europa vorgelagerten Kaps an.