Das mächtige Katalonien

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Das mächtige Katalonien

Katalonien behauptet seine unauflösbare Identität auf ruhigere und überzeugendere
Weise. Zusammen mit dem Baskenland, und schon vor diesem, ist und war es das
Mittelpunkt einer sich rasch entwickelnden Industrie, deren Stützpfeiler die
Textilbranche bildete: noch heute kleidet sich ganz Spanien in Stoffe »made
in Katalonien«. bzw. schläft in diesen. Auf diese Weise konnte ein begütertes
und selbstsicheres Bürgertum entstehen - stolz genug auf das Erbe einer Kultur,
dessen literarische und künstlerische Zeugnisse sich bis ins Mittelalter zurückverfolgen
lassen, um dem kastilischen Bürgertum gegenüber keine Minderwertigkeitskomplexe
zu empfinden. Seine außerordentlich praktische Veranlagung, dieser widerstandsfähige,
auf die Regeln des Lebens ausgerichtete, gesunde Menschenverstand - der Seny,
von Jaime Vicens Vives, dem großen katalanischen Historiker, scharfsinnig analysiert
- vereinigt sich mit dem Sinn fürs Schöne in all seinen Formen. Vom Architekten
Gaudí über Montserrat Caballé bis hin zu Pablo Casals und Salvador Dalí - Katalonien
hat seine Künstler gehegt und gepflegt und versucht, sie zum Bleiben zu bewegen,
was man von den anderen Landstrichen Spaniens nicht gerade behaupten kann.

Seit rund hundert Jahren bereitet eine glanzvolle Renaissance in der Literatur
den Boden für hartnäckige Forderungen nach politischer Autonomie, von regen
Zulauf findenden katalanistischen Parteien unterstützt. Zur Zeit der Republik
konnte eine selbständige Regierung durchgesetzt werden, die sogenannte Generalitat,
die dem Angriff der Anhänger Francos bis zuletzt erbitterten Widerstand leistete.
Eine der ersten Handlungen beim Übergang zur Demokratie war dann später die
Wiedereinsetzung der katalanischen Institutionen, die ihre Handlungsfähigkeit
schnell unter Beweis stellten. In diesem Klima des wiedergewonnenen Vertrauens
äußert sich die neue Identität durch gemeinsame Unternehmen, was vor allem die
gewaltigen und ehrgeizigen Projekte im Zuge der Vorbereitungen für die Olympischen
Spiele veranschaulichen. Zur gleichen Zeit entfalteten sich die verschiedenartigsten
künstlerischen Ausdrucksformen: ob im Theater, im Kino, in Liedern oder im Fernsehen,
wo der Sender TV 3 ein breites Publikum eroberte - überallhin reicht der Einfluß
der katalanischen Sprache. Sie ist nunmehr in den Schulen Pflichtfach, so dass
der ganze Unterricht zweisprachig abgehalten wird. Alle Einwohner Kataloniens
müssen sie beherrschen, selbst die zahlreichen Zuwanderer kastilischer Muttersprache,
wobei letztere sich nicht selten über diese fortschreitende Hegemonie aufregen.

Nach Jahrhunderten der Demütigung darf Katalonien endlich seine Eigenart ausleben.

Die benachbarte Provinz Valencia gehört weitgehend dem gleichen Sprachraum
an, so dass das kulturelle Erbe beider Landstriche zahlreiche Gemeinsamkeiten
aufweist. Der Partikularismus in Valencia blieb indessen lange Zeit im Verborgenen:
zwar benutzten die in den Huertas lebenden Bauern weiterhin ganz selbstverständlich
ihre eigene Sprache, aber bei den Intellektuellen ist sie erst seit kurzem gefragt.
In der Stadt Valencia, wo der Exporthandel dominiert, ist der althergebrachte
und tiefsitzende kastilische Einfluß noch allerorten spürbar.