Athen
Athen: Zauber des Unermeßlichen
Mit seinen in die Unendlichkeit ausgreifenden Tentakeln präsentiert sich Athen
als diffuses urbanes Gebilde, das - nachdem es sich im Herzen einer Ebene festgesetzt
hatte - inzwischen halb Attika überwuchert. Monate wären erforderlich, um Athen
gründlich zu besichtigen, ganze Jahre, um es wirklich zu kennen. Gewiß wird
niemand versäumen, seine Schritte über die Agora zu lenken, sich auf einem der
ersten Ränge des Dionysos-Theaters niederzulassen und anschließend jenen heiligen
Felsenberg zu erklimmen, um Akropolis und Parthenon ganz aus der Nähe zu betrachten,
gebaut aus Licht und Harmonie. Jeder wird sich ausreichend Muße für den Besuch
des Akropolis-Museums nehmen und die dort vor der Luftverschmutzung in Sicherheit
gebrachten, wunderbaren Fundstücke betrachten. Abgase bedrohen nicht allein
den für die Bauwerke verwendeten Pentelischen Marmor, sondern nagen an den Eingeweiden
des ganzen heiligen Hügels. Die 1984 in Angriff genommenen Arbeiten, welche
die Akropolis vor einer Katastrophe bewahren sollen, werden - wie es heißt -
noch über fünf Jahrzehnte andauern. Unsummen werden dafür aufgewandt werden
müssen, die Folgen des ungehemmten Wachstums Athens einzudämmen ...
In den volkstümlichen Altstadtgassen Monastirakis (dem Flohmarkt der Athener)
unterhalb der Akropolis, nur wenige Schritte von der ehemaligen Agora, lebt,
arbeitet und diskutiert das alte Volk der Athener wie während der Antike. Statt
Bürgerversammlungen auf der Pnyx, geben sich heute Händler, Kunden und Passanten
ein Stelldichein: im Schatten eines Kiosks auf dem kleinen Aghiou-Philippou-Platz
liefern sie sich lebhafte Debatten über die steigenden Lebenshaltungskosten
oder die von der Regierung angekündigten Maßnahmen gegen die Arbeitslosigkeit.
An Politik desinteressierte - jeder Athener wird das nicht ganz geheuer finden
- lenke seine Schritte doch in eines der kafenions in der Areos-Straße. Die
Tische stehen draußen auf dem Gehsteig, pausenlos wird man von herumschnüffelnden
und -stöbernden Passanten zur Seite geschubst; die einen bleiben stehen, um
einen Kochkessel mit der Hand abzuwiegen, den der Händler von nebenan zu Ihren
Füßen abgestellt hat; andere, um die Sohlen an der Wand, unmittelbar über Ihrem
Kopf, baumelnder Militärstiefel zu betasten. Das ganze Kommen und Gehen indes
hindert Sie in keinster Weise, an Ihrem ouzo zu schlürfen, begleitet von ein
paar Oliven und zwei oder drei Scheiben Gurke oder Tomate in einer kleinen Untertasse.
Nun dient der Aperitif aber dazu, den Appetit anzuregen. Gut zu wissen, dass
ein paar hundert Meter von Monastiraki eine unüberschaubare Fülle von Restaurants
und Tavernen auf Kundschaft harrt: im berühmten Plaka-Viertel, am Nordhang der
Akropolis. Wie schon Monastiraki wehrt es sich eher schlecht als recht gegen
die Modernisierung, gegen den Vormarsch des Betons wie auch der Autos. Vor einigen
Jahren hatten die Bewohner dieses Altstadtviertels damit begonnen, wegen des
Heidenlärms aus Nachtlokalen und der massiven Touristeneinfälle ihre hübschen
Häuschen fluchtartig zu verlassen: die Plaka war ihrem Schicksal überlassen,
den Spekulanten und Baulöwen aller Couleur, den Drogendealern ...
Zu Beginn der achtziger Jahre ergriff die Regierung erste Gegenmaßnahmen: die
Eröffnung neuer Nachtlokale wurde im Interesse traditioneller Tavernen verhindert,
Familien zu einer Rückkehr in ihre verlassenen Häuser ermuntert; zugleich blies
die Polizei zur unerbittlichen Jagd auf Drogenhändler und unterband den Autoverkehr.
Wenngleich die Plaka nicht wieder ihren dörflichen Zauber früherer Jahre zurückgewann,
so steht sie doch heute merklich besser da: die Altstadtgassen sind vergleichweise
ruhig, die Preise in Tavernen und Restaurants nicht mehr unerschwinglich. Woran
man die besseren Lokale auf Anhieb erkennt, das ist zunächst einmal das Nichtvorhandensein
eines ohrenbetäubenden Orchesters und von Synthesizern, aber auch der Kerzen
auf jedem Tisch. Wer partout auf einem Abendessen bei Kerzenschein besteht,
läuft Gefahr, bei der Rechnung hinterher nicht nur Kerzen sondern auch Sternchen
zu sehen!
Auch das Viertel mit dem Athener Zentralmarkt (kentiki agora) lohnt ein näheres
Hinsehen. Ganze Berge von Wassermelonen, Pyramiden aus Obst- und Gemüsekisten,
stapelweise Stockfisch oder Kraken, von deren Fangarmen noch das Meerwasser
tropft, sowie Hundertschaften guter alter Lebensmittelläden verleihen dem Quartier
ein rein orientalisches Gepräge.
Die gesamte Marktfläche steht unter dem Schutz der grossen Tragiker in der
griechischen Antike, einiger weiser Männer und der Gottheiten des Olymp! Athene
hat eine besonders lange Verkehrsader zugesprochen bekommen: sie nimmt am Omonia
(oder Platz der Eintracht) ihren Anfang und endet zu Füßen der Akropolis. In
der kurzen, Sophokles zugedachten, Straße (odos Sofokleous) fanden sich die
Lebensmittelgroßhändler und Olivenölhändler zusammen. Unweit von hier wacht
Euripides über Metzgereien, Käsehandlungen und jene Lädchen, wo Gewürzkräuter
feilgeboten werden. Aischylos hingegen hat seinen Namen lieber für eine Straße
hergegeben, wo Farbenhändler das Bild bestimmen. Sein Nachbar Sokrates verlegt
sich auf den allgemeinen Warenhandel.
Neoklassizistisches
Gewiß läßt die Regentschaft Ottos (1832-1862) an Besatzung und Unterdrückung
denken; er war es aber auch, der die griechische Hauptstadt mit einer Reihe
neoklassizistischer Gebäude bestückte, den Werken bayerischer, dänischer und
französischer Architekten. Hansen, Schinkel, Schaubert und Boulanger gelang
es sicher nicht, Perikles vor Neid erblassen zu lassen; immerhin hinterließen
sie den Athenern wirklich ansehnliche Bauten, die sich in der mit architektonischen
Monströsitäten gespickten Stadtmitte wohltuend abheben. Universität, Akademie
und Nationalbibliothek an der Panepistimiou-Straße verleihen diesem Stadtteil
eine gewisse Würde, während die Leuchtkraft der Gebäude, dem pentelischen Marmor
geschuldet, die ältesten Bürger Athens an jene Zeit gemahnen, da ihre Stadt
noch nicht im Schmutz erstickte.
Museen
Braucht man einem Besucher dieser glorreichen Stadt noch das Archäologische
Museum ans Herz zu legen? In seinen Sälen finden sich die reichbestücktesten
Skulpturen- und Keramiksammlungen aus dem vorgeschichtlichen, klassischen und
hellenistischen Griechenland. Eine schier unendliche Abfolge von Meisterwerken.
Ganze Wochen müßten einem Besucher zur Verfügung stehen, um alle Schätze würdigen
zu können. Allein die Poseidon-Statue vom Kap Artemisio wird die Aufmerksamkeit
für einige Zeit beanspruchen. Nicht entziehen können wird er sich wahrscheinlich
auch der Fasziniation, die von den kouroi (kouros: unbekleideter, junger Mann)
mit ihrem mysteriös-feierlichen Lächeln und ihren zugleich kräftig und zerbrechlich
wirkenden Körpern ausgeht. In Gedanken versunken, wird er vor den Grabstelen
aus dem fünften und vierten vorchristlichen Jahrhundert verharren - einiges
spricht dafür, dass es sich um in Serie gefertigte Auftragsarbeiten handelt,
was ihrer ästhetischen Vollkommenheit aber keinen Abbruch tut. Nur ein Beispiel
dafür, dass zu Zeiten der griechischen Antike Geschäft und Alltag nicht unvereinbar
waren mit Kunst. Vergessen wir auch nicht, dass sowohl auf Alt- als auch auf
Neugriechisch ein und dasselbe Wort (techni) Kunst und Handwerk zugleich bezeichnet.
Unweit des Syntagma-Platzes birgt das Byzantinische Museum eine beachtliche
Zahl von Ikonen, denen es seinen Weltruf verdankt. Alle Epochen der byzantinischen
Kunst und Ikonographie sind hier vertreten. Sogar einige rekonstruierte Innenausstattungen
von Kirchen finden sich darunter.
Ein paar hundert Meter weiter vervollständigt das Benaki-Museum unsere Kenntnisse
in Sachen byzantinischer Malerei und führt uns eine prunkvolle Sammlung griechischer
und orientalischer Teppiche sowie Trachten aus Provinzen und von den Inseln
vor Augen.
Vor den Mauern von Athen
Im Monat Juli ist die Hitze in der griechischen Hauptstadt häufig unerträglich,
bei Temperaturen zwischen 38° und 42° C im Schatten. Unter solchen Wetterbedingungen
verschiebt man seine Streifzüge durch die Stadt zweckmäßigerweise auf einen
späteren Zeitpunkt, schlägt einen weiten Bogen um Ruinen, die sich dann in Backöfen
verwandeln, und flieht vor der Gluthitze in Athens Innenstadt: das Heil liegt
dann vor den Toren der Stadt, und es stellt sich lediglich die Qual der Wahl.
Piräus
Zehn Kilometer südlich gelegen, ist Piräus mehr als nur Einschiffungshafen
für eine Kreuzfahrt über die Inseln. Es ist auch eine anziehende Stadt, voller
Leben und Bewegung, deren volkstümliche Viertel - hier zahlreicher als in der
Hauptstadt - sich ihren malerischen Reiz bewahrten. In den Tavernen von Perama
speist man ebensogut wie in der Plaka, berappen nur sehr viel weniger.
Kifissia, Kefalari
Nach dem Piräus-Streifzug nun in die Metro einsteigen - es existiert nur eine
Linie - und ohne Zwischenhalt in Athen nach Norden fahren. An der Endhalte liegt
Kifissia mit seinen kühlen Schatten unter Bäumen, Gemüsegärten und Parkanlagen.
Falls Ihnen danach ist, bringt Sie eine Pferdedroschke weiter hinaus: nach Kefalari,
am Rande eines Kiefernwäldchens. Und sollte jemand vom hereinbrechenden Abend
in Kifissia überrascht werden, lädt die Taverne Bokaris, eine der ersten Adressen
auf der gesamten attischen Halbinsel, zum Abendessen.
Marathon
Das zweiundvierzig Kilometer nordöstlich von Athen gelegene Städtchen, im Jahre
490 v.Chr. Schauplatz der berühmten Schlacht zwischen Athenern und Persern,
liefert einen unwiderstehlichen kulturellen Vorwand für ein Bad am hier besonders
anziehenden Strand.
Kap Sunion
Das Kap, achtundsechzig Kilometer südöstlich der Hauptstadt, bietet Gelegenheit
zu einem geschichtsträchtigen Fußmarsch; ein wenig störend wirken nur die Touristenschwärme,
die an Ihrem Vergnügen teilhaben werden. Über dem Meer thront der wunderbare
Poseidontempel, und am Horizont läßt sich unter den Inseln das wasserlose Makronissos
ausmachen, über das sich alle Reiseführer ausschweigen: im dortigen Konzentrationslager
wurden während des Bürgerkriegs (1947-1949) tausende aktiver Linke brutal gefoltert.
Porto Ghermeno
Hier, siebzig Kilometer nordwestlich von Athen und am Fuße des Kitheronas,
geschah es, dass Ödipus von seinem Vater ausgesetzt wurde. Ein anmutiger Hafenplatz,
von einer Handvoll charakteristischer Tavernen gesäumt.
Kaissariani, Daphni
Liebhabern byzantinischer Kunst winken zwei hübsche Ausflüge vor den Toren
Athens. An den Bergflanken des Hymettos erwartet Sie stille Kühle im Kloster
von Kaissariani, und an der Straße nach Korinth werden Sie sich der schlichten
Schönheit der Kirche zu Daphni (6. Jahrhundert) und ihrer eindrucksvollen Mosaiken
nicht entziehen können. Der Christus Pantokrator in der Kuppel gilt als eines
der Meisterwerke byzantinischer Ikonographie.
Noch vor wenigen Jahrzehnten zählten die Strände Attikas zu den schönsten im
ganzen Land. Die Athener brauchten nur ein paar Kilometer zurückzulegen und
konnten schon in glasklares Wasser hinabtauchen. Leider verschandelten die Verstädterung,
ein Vielfaches an Hotelkomplexen und Fabrikniederlassungen entlang der Küste
die Landschaft; Luftverschmutzung und städtische Abwässer führten zu einem Badeverbot
an den Stränden der Hauptstadt. Dennoch kann, wer sich etwas weiter entfernt,
noch einen winzigen Zipfel dessen erhaschen, was einst das »gute alte Attika«
mit seinen Stränden war.
Kineta
In Fahrtrichtung Korinth, nur wenige Kilometer hinter Megara, bietet ein Kieselstrand
in Kineta sauberes Wasser und einwandfreie sanitäre Anlagen.
Vraona
Im Nordosten hat man die Wahl zwischen den einladenden Buchten von Vraona (dem
antiken Vravron) und Loutsa mit seinem langgezogenen - allerdings unerschlossenen
- feinem Sandstrand. Bis zu hundert Meter weit kann man ins Wasser hinauslaufen,
und selbst dann reicht es gerade eben mal bis zur Taille. Geschichtliches Detail
am Rande: während des Zweiten Weltkriegs hatten die Allierten, bevor sie sich
für die Normandie entschieden, eine Landung in Loutsa in Betracht gezogen. Fehlende
Gezeiten und die geringe Wassertiefe hätten für die Operation tatsächlich geringere
Kosten verursacht: sowohl an Geld als auch an Menschenleben.