Geschenk der Athene

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Das Geschenk der Athene

Eines Tages, vor langer langer Zeit, befand Poseidon, er müsse sein Meeresreich
durch Angliederung einiger Landstriche vergrößern. Er begehrte Attika, worauf
auch Athene ein Auge geworfen hatte. Indem er seinen Dreizack auf die Felsen
der Akropolis niederfahren ließ, brachte er dort eine Salzwasserquelle zum Sprudeln,
was weder die Begeisterung seiner Kollegen auf dem Olymp noch die der Athener
hervorrief, ohnehin geplagt von Trinkwassersorgen. Um ihre Enttäuschung zu lindern,
aber auch, um die Pläne Poseidons zu durchkreuzen, pflanzte Athene unweit der
Quelle einen Olivenbaum. Das sogleich zusammengetretene göttliche Gericht beschied
Athene die größeren Rechte an diesem Landstrich, weil ihr Geschenk erstens schöner
und zweitens von höherem Nutzen für die Zukunft des Landes Attika war.

Die göttlichen Richter hatten sich nicht geirrt.

Nachdem er sich soweit vermehrt hatte, dass er die ganze Region bedeckte, breitete
sich der Olivenbaum in ganz Griechenland aus und ernährte Jahrhunderte lang
mit seinen Früchten und dem daraus gewonnen Öl die Bevölkerung, hielt die Dochte
der Öllampen am Brennen und bot sein Holz zum Heizen dar. Ein mächtiger, robuster,
allen Unwettern trotzender Baum, dem weder Wind und Hagel noch Frost und Gluthitze
etwas anhaben können, der seinen Durst Jahre hindurch unterdrücken kann und
der sich Jahrhunderte lang mit einem trockenen, armen Boden bescheidet. In Böotien,
auf Euböa und dem Peleponnes wird man dem Besucher mächtige Ölbäume zeigen,
deren Kronen den palikaria (jungen Kriegern) während des Unabhängigkeitskampfes
(1821) Schatten spendeten; andere, an deren Stamm die Revolutionäre des 17.
Jahrhunderts in einer Kampfpause ihre Waffen lehnten. In Attika haben diese
Bäume gar Franken und Veneter gesehen, und manche sollen schon beim Vorbeizug
der römischen Legionen hier gestanden haben! Im Bereich der Inseln finden sich
die ausgedehntesten Olivenhaine auf Mytilene und Samos, unweit der türkischen
Küste, aber auch auf Thassos, wo die kleinen, runzeligen Oliven besonders lecker
schmecken, auf Korfu und im Westteil Kretas. Auf dem Festland bringt die messenische
Ebene die berühmten Oliven von Calamata hervor - schwarze, glatte, mandelförmige
Früchte - während aus den Gegenden um Pilion, Amfissa und Itea die gewöhnlich
zum Verbrauch bestimmten Oliven stammen.

Auf dem gedeckten griechischen Tisch steht traditionell ein Schälchen mit Oliven.
Der Landbewohner verspeist sie mit einer Scheibe Brot während der Arbeitspause;
abends mischt er sie unter den Salat. Früher nahmen Schüler einige Oliven als
Pausenmahlzeit mit, und jeder Reisende führte unterwegs welche in seinem Proviantbeutel
mit. Auf den Märkten der Großstädte, namentlich in Athen, lassen sich Kübel
mit Oliven aller Größenordnungen und Arten bewundern: grüne, schwarze, blaumalvenfarbige
mit silbrigem Glanz, dunkelbraune mit einem besonders feinen grauen Ende, gefüllt
mit Mandeln oder Kapern, gesalzen, mit Essig angemacht, wie gewachsen.

Was das Öl betrifft, so widmet man diesem einen richtigen Kult, respektiert
und verehrt es. Nur die kleine, von ihm genährte Flamme in der Lampe wird für
würdig befunden, die knochigen und strengen Gesichter der Heiligen in den Ikonostasen
zu erleuchten, auf dem Altar in der Kirche zu wachen und mit ihrem milden Licht
jene auf dem Friedhof zu trösten, die dort vor einem Grab andächtig verharren.
Während der Taufe reibt man den Körper des Kindes mit geweihtem Olivenöl ein.
Ist es erst erwachsen, wird es seinem Paten oder seiner Patin, »die es mit Öl
eingerieben haben«, stets den geforderten Respekt entgegenbringen.

Die Ölherstellung spielt für den griechischen Bauern eine vergleichbar wichtige
Rolle wie der Wein für seinen französischen Kollegen. Es handelt sich um ein
Grundnahrungsmittel mit dem Stellenwert des Brotes, mit dem es in der Redensart
»Möge Gott uns weder um Brot noch Öl bringen« oder auch im Sprichwort »Brot
bedeutet Unterhalt, Öl Überfluß« verbunden ist. Bemerkenswert auch, dass in Griechenland
Bestechungsgelder in Form eines »Öltopfes« gezahlt werden und dass nicht geschmiert
sondern »geölt« wird.

Was ist heute aus dem Geschenk der Athene geworden?

Seit den fünfziger Jahren verschwanden hektarweise Olivenhaine, wurden einer
unkontrollierten Verstädterung geopfert, dem Bau von Straßen und Hoteleinheiten,
oder wurden aufgrund von Arbeitskräftemangel Ernte aufgelassen (in den siebziger
Jahren mußten die Behörden Arbeiter aus dem Maghreb und aus Spanien ins Land
rufen). Im Zuge der auf Diversifizierung der landwirtschaftlichen Produktion
ausgerichteten EGPolitik wurden Monokulturen schließlich immer weiter zurückgedrängt.
Dabei handelt es sich fast um die einzige Ertragsmöglichkeit in einem Land,
dessen Bauern meist nur über ein bescheidenes Stück Land verfügen. Deshalb bleibt
der EG nichts anderes übrig, als das Fällen tausender Olivenbäume und das Ausreißen
aller angestammten Rebenarten zu subventionieren. Zugleich wird die griechische
Bevölkerung in kostspieligen Werbekampagnen dazu aufgefordert, Butter und Margarine
zu verbrauchen!