Alle Wege ...

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Alle Wege führen in die Stadt

Wirtschaftliche Faktoren, denen zweifellos eine entscheidende Bedeutung bei
der Entvölkerung des ländlichen Raumes in Griechenland zukommt, reichen nicht
aus, um das beunruhigende Ausmaß zu erklären, welches das Phänomen der astyphilie
(Sogwirkung der Stadt) innerhalb der letzten Jahre angenommen hat. Hunderttausende
Bauern haben ihre Dörfer im Hinterland verlassen und strömten in die Städte
an der Küste. Ihre Arbeitskraft wird zunehmend von der Fremdenverkehrsindustrie
aufgenommen, da höher qualifizierte Tätigkeiten für sie nicht in Betracht kommen.
Der saisonale Beschäftigungscharakter ist deshalb so attraktiv, weil er es ihnen
ermöglicht, gleichzeitig anderen Erwerbsquellen nachzugehen. Eine große Verlockung
sind auch die sozialen Vorteile, zu denen die Landarbeit bisher keinen Zugang
gewährt. Stolze Bäuerinnen aus Kreta, Frauen und Töchter der Seefahrer aus Kalymnos,
Leros oder Kos schlagen sich um eine Anstellung als Wäscherin im Hotel oder
Spülfrau in der Taverne, während ihre Ehemänner nach einer Stelle als Ober im
Café oder Portier jagen. Ungeachtet eines gewissen, bei den jungen Leuten zu
beobachtenden, Anstiegs des Interesses an Grund und Boden sowie zahlreicher,
von der Regierung gewährter Zuschüsse an Modernisierungswillige, verkaufen jährlich
weiter tausende Bauern ihre Olivenhaine und Weinberge. Die einen mieten zu Wucherpreisen
einige Quadratmeter am Strand, um dort einen Eis oder Bratspießstand zu eröffnen;
andere schlagen ihre Buden an den Zufahrtsstrassen zum Meer auf, um Andenken
und Badeartikel feilzuhalten.

Allabendlich versammelt sich die Familie des zum Händlertum übergetretenen
Bauern zum Nachtessen im Hinterzimmer und schaut sich im Fernsehen die Familienserien
an: dann wird mit der unglücklichen Hauptdarstellerin gelitten, die nach wie
vor in einer hübschen Behausung der Hauptstadt wohnt. Mutter erfreut sich am
modernen Mobiliar, dem bequemen Leben in Athen mit seinen Annehmlichkeiten,
während Vater sich für das blinkende und blitzende Auto des Geliebten begeistert.
In einer Ecke erledigt die junge Tochter der Familie ihre Schulaufgaben, und
Großmutter nutzt ihr Talent als Stickerin: ihre Deckchen repräsentieren das
örtliche Kunsthandwerk.

Dennoch, das griechische Dorf hält stand.

In bestimmten Regionen, besonders im Epirus, in Makedonien und rund um Tripolis,
mitten im Herzen des Peloponnes, sind die alten gesellschaftlichen Strukturen
noch gut erhalten, wurden die Häuser noch nicht verlassen, wenngleich die Familienmitglieder
sich über die umliegenden Städte verstreuten: seit einigen Jahren ist immer
häufiger zu beobachten, dass bestimmte Dörfer während der Sommermonate fast wieder
ihre ursprüngliche Einwohnerzahl erreichen. Die Dorfbevölkerung hängt gewöhnlich
sehr an ihrem Heimatort.

Bis zu den fünfziger Jahren - sie markieren das Ende des Bürgerkriegs und die
amtliche Bestätigung der amerikanischen Präsenz - ging die Modernisierung spurlos
am ländlichen Griechenland vorüber: noch hatte der Tourismus seine massiven
Ausmaße nicht erreicht, deckte der nationale Rundfunk nur knapp die Hälfte des
Landes ab, existierte kein Fernsehen. Griechenland war damals ein anderes Land
und lebte seinen alten Traditionen gemäß; seine Kultur war vom Ansturm der westlichen
Zivilisationsformen noch unberührt. Seither hat sich der »Fortschritt« breitgemacht,
ohne jedoch an Tiefgang gewinnen zu können: die im Sommer in ihr Heimatdorf
zurückkehren, finden ihre Traditionen ungebrochen.