Die Jurte
Wohnortwechsel in wenigen Stunden
Die Jurte: das ideale Rundzelt für das Steppenleben der Nomaden
Das Nomadisieren in den Steppen verlangte eine bewegliche Unterkunft, die leicht zu transportieren war, zugleich aber auch einen wirksamen Schutz vor allen Witterungsunbilden bot. Diese Forderung erfüllte in idealer Weise das weiße Rundzelt mit Kegeldach, eine alte Erfindung voller Einfallsreichtum und Zweckmäßigkeit.
Mongolen nennen es »ger«. In Europa allgemein verbreitet ist jedoch die Bezeichnung »Jurte«, die aus dem Türkischen (jurt) über Kasachisch und Russisch in die deutsche Sprache kam und soviel wie »Zelt, Lagerplatz, Land, Heimat« bedeutet. Steinhäuser gibt es auf dem Land bis heute nur wenige. Die Jurte ist ein stabiles, den Stürmen trotzendes, übermannshohes Zelt, ihr Unterbau zylinderförmig und im Vergleich zum Durchmesser flach. Dem Unterbau wird ein kegelförmiges Dach aufgesetzt, dessen zentrale Öffnung Rauch entweichen und Licht einfallen läßt.
Heute wie vor 700 Jahren
Nach chinesischen Quellen ist die Jurte seit dem 6. Jh n. Chr. in der Mongolei bekannt. Sie entstand aus der sogenannten »Ebesun nembule«, einer Art Grashütte. Das Zelt der Mongolen sieht immer noch genauso aus wie vor 700 Jahren. Giovanni di Piano Carpini, der 1245-1247 die Mongolei im Auftrag des Papstes Innozenz IV. bereiste, beschreibt eine Jurte:
»Ihre Wohnungen sind kreisförmig und sehr geschickt aus Rohr und Holzreifen in Art eines Zeltes hergestellt. Aber sie haben in der Mitte des Daches ein offenes Fenster, durch das das Licht einfällt und der Rauch abzieht, denn stets befindet sich in der Mitte des Zeltes eine Feuerstätte. Die Wände dieser Behausung sind mit Filz bedeckt. Einige dieser Wohnungen können schnell abgebaut und neu zusammengesetzt werden; sie werden auf dem Rücken ihrer Tiere transportiert. Andere dagegen lassen sich nicht abtragen und werden daher auf Karren geladen und mitgeführt, ganz gleich, wohin sie ziehen, sei es in den Krieg oder zu anderen Weideplätzen.«
In bewegtem Gelände werden Jurten, die im allgemeinen eine Familie beherbergen, am Fuß südexponierter Hänge aufgebaut. Meist in Gruppen angeordnet, bilden sie temporäre Ansiedlungen von zehn bis zweihundert Bewohnern. Die leicht zerlegbare Konstruktion und der gesamte Hausrat lassen sich heute auf zwei Kamelen oder in einem Karren leicht transportieren. Die hölzernen Scherengitter und die Dachstäbe sind mit Filzdecken verkleidet; eine hölzerne Tür wird eingesetzt.
Holztür statt Armbanduhr
Die Türen sind mit geometrischen Mustern und farbigen Malereien verziert. Sie wurden früher vielfach auf Bestellung von Lamas in den Klöstern angefertigt. Da sich die Zelttür nach Süden öffnet, wird nach dem Einfallswinkel der Sonnenstrahlen die Tageszeit bestimmt. Der Fußboden ist mit Filz oder Teppichen ausgelegt. Das Feuer wird mit getrocknetem Schafmist gespeist.
Gegenüber dem Eingang befindet sich der Hausaltar aus übereinandergestellten Truhen, auf denen die heiligen Bücher, eine bronzene Buddhastatue oder Tonfiguren lamaistischer Gottheiten liegen. Einzige Einrichtungsgegenstände sind Ton- und Holzgefäße, Handmühlen und Webstühle. Der Filz und sämtliche Kleidungsstücke werden von den Frauen hergestellt.
In der Jurte spielt sich das Leben ab. Für jene Mongolen, die heute noch ihren Unterhalt als nomadisierende Viehzüchter verdienen, ist sie die traditionelle Wohnstätte geblieben. Für den Transport genügen ein paar Kamele oder Pferde als Lasttiere. Zunehmend dienen auch Kraftfahrzeuge als Verkehrsmittel. Eine Jurte wiegt im Durchschnitt 250 bis 300 kg. Nur Prunkjurten wurden früher auf riesige Wagen gesetzt und von mehreren Ochsen über Land gezogen. Am neuen Standort wird mit Kennerblick ein geeigneter Platz ausgesucht.
Der Aufbau beginnt mit der Tür, die immer nach Süden zeigt. Das Grundgerüst bilden scherenartig bewegliche Holzgitter, die ausgezogen, zu einem Kreis zusammengefaßt und mit Roßhaarleinen verknünft werden. Sie bilden ein leichtes, stabiles, aber nicht starres Grundgerüst. Für kleine Jurten genügen vier Scherengitter (»chana«), für große sechs oder mehr.
Der extremen Kälte gewachsen
Über den Scherengitterkreis erhebt sich die Dachkuppel, aus eng beeinanderliegenden Holzstangen (»bagana«), zusammengehalten in der Mitte von einem hölzernen Radkranz, so dass sie dort eine Krone bildet. Gestützt wird die Dachkuppel von zwei hölzernen Pfeilern (»un«). Auf das Gerüst des Kuppeldaches werden Filzmatten gelegt, im Winter oft bis zu fünf Lagen als Schutz gegen die Kälte. Diese Filzmatten reichen an den Scherengittern vorbei bis zum Boden. Darüber wird ein weißes Leinentuch gespannt und das ganze Zelt wird durch Roßhaarleinen nochmals befestigt. Diese Leinen halten vorzüglich die Belastungen der Stürme aus und bewähren sich auch bei Trockenheit und Nässe.
Im Sommer werden Filzbelag und Leinentuch einen halben Meter nach oben geschlagen, damit der kühlende Wind durch die Jurte streichen und der Rauch absteigen kann. Der offene Abschlußkranz (»tuno«) läßt sich durch ein besonders rechteckiges Leinentuch, das auf dem Jurtendach befestigt ist, bei Regen- oder Schneefall mit Hilfe einer Leine schließen.
Der Durchmesser der Jurten liegt je nach Anzahl der verwendeten Scherengitter zwischen drei und sechs Metern. Die Höhe erreicht unter dem offenen Kuppelkranz im Mittel nicht ganz drei, an den Seitenwänden nur etwa 1,50 Meter. Jurten, die längere Zeit an einem Standort verbleiben, stehen meist auf einem hölzernen Fundament.
Platzverteilung
Die Platzverteilung in der Jurte ist seit Jahrhunderten genau festgelegt. Sie wird bei den traditionsbewußten Araten überall im Lande auch heute noch eingehalten. Gegenüber dem Eingang befindet sich der Platz des Jurtenbesitzers und der Empfangsteil für die Gäste. Er ist vielfach mit einem niedrigen Tisch und kleinen Hockern ausgestattet. Die Blicklinie vom Ehrenplatz zur Eingangstür ist die Nord-Süd-Achse. Links dieser Achse (also östlich) ist die Frauenseite, rechts davon die Männerseite.
An der Rückwand stehen Schränke, Truhen oder Koffer zum Aufbewahren von Kleidungsstücken und Gebrauchsgegenständen. Darauf haben meist Rundfunk- und zunehmend auch Fernsehgeräte Platz gefunden. Rechts und links sind Betten und Sitzgelegenheiten aufgereiht. In der Mitte ist der Herdplatz (»aavyn golomt«), der von einem zylindrischen eisernen Ofen eingenommen wird, auf dem alle Speisen zubereitet werden und der im bitterkalten Winter die notwendige Wärme spendet. Der Rauch zieht über ein Ofenrohr durch die offene Dachkrone ins Freie. Die Frau hat ihren Platz rechts am Ofen.
In der vorderen Hälfte der Jurte ist der rechte Sektor als Küchenteil eingerichtet, wo Geschirr und Hausrat aufbewahrt werden. Links davon ist der Wirtschaftsteil mit Sattel- und Zaumzeug, Milch- und anderen Gefäßen. Hier liegen auch die Behälter zur Herstellung des »kumyss« oder »airag« (vergorene Stutenmilch). In einigen Jurten wird im Wirtschaftsteil während des kalten, sturmreichen Frühlings oft noch ein kleines Gatter für schwache, neugeborene Jungtiere eingerichtet.
Farben, Muster, Tiere
Neben der vorgestellten Wohnjurte gibt es auch Jurten zu anderen Zwecken. Ausstattung und Platzverteilung entsprechen dann ihrer Funktion. In einem Nebenzelt ist das Badehaus (»chaluun us« = heißes Wasser) untergebracht.
Beeindruckend in einer Jurte ist die Vielfalt der Farbkombinationen und Muster. Das gilt für Jurtengestelle wie für Einrichtungsgegenstände. Unermeßlich scheint die Vielfalt der Muster zu sein, die in der Regel symbolische Bedeutung besitzen. Die buddhistischen Tierkreiszeichen sind vor allem auf Haushaltsgegenständen zu finden. Dabei verkörpern die einzelnen Tierarten bestimmte Eigenschaften: das Pferd steht für Schnelligkeit, der Tiger für Tapferkeit, der Drache für Kraft und Größe usw. Auch jeder Farbe wird eine Bedeutung zugeordnet: Dunkelblau steht für Ewigkeit und Aufrichtigkeit, Gelb für Liebe und Sympathie, Rot für Freude, Weiß für Unschuld usw.