Die Etappen der Reconquista

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Die Etappen der Reconquista

Aber der Stein der Reconquista war bereits ins Rollen gekommen. Hält man nur die Hauptzüge von acht Jahrhunderten arabischer Präsenz fest, so läßt sich eine erste Stufe erkennen, die eher eine Zeit der Flucht darstellt. Der islamische Angriff bricht zwar wie ein Naturereignis über die iberische Halbinsel herein, schafft es aber nicht, die Berge im Norden, d.h. die Pyrenäen und das Kantabrische Gebirge sowie deren Ausläufer zum Atlantik hin, unter Kontrolle zu bringen. Dort, in den entlegenen Tälern, sollten die kleinen Hirtenvölker den neuen Herren Spaniens erbitterten Widerstand leisten. Diese herausfordernde Haltung mag bei ihnen schon Tradition sein, wird aber in diesem Fall noch durch die leidenschaftliche Ablehnung des neuen Glaubens verstärkt. Pamplona, Jaca, Seo de Urgel und allen voran Oviedo, die kleine Hauptstadt Asturiens, bilden auf diese Weise Ausgangspunkte des Irredentismus.

Dieser Wille zum Überleben regte zu einer vorromanischen, mit byzantinischen Elementen vermischten Kunst an, von deren Vertretern man wenigstens an den Hängen des Monte Naranco, oberhalb von Oviedo, Kleinode, wie z.B. die Kirche San Miguel de Lillo und das schloßartige Gebäude von Santa María, sehen sollte. Heiliger Ort der Reconquista ist die Grotte von Covadonga, in der dreihundert Überlebende der Niederlage von Guadalete Zuflucht gesucht haben sollen. Ganz in der Nähe, unterhalb der Felsen, haben sie dann angeblich die sie verfolgenden Mauren niedergekämpft. Manchmal hat die Legende eben doch mehr zu berichten als die Geschichtsschreibung.

Diesen verstreut liegenden Gemeinden, auf der Suche nach einer Bestimmung, fehlte einfach ein gemeinsamer Mythos und ein Minimum an Beziehungen untereinander, um ihrer Isolierung zu entfliehen. Da kam die Person des heiligen Jakobus d.Ä. natürlich wie gerufen. Der Überlieferung nach soll der Apostel, Bruder des heiligen Johannes, in Galicien gelandet sein, um das Evangelium in Spanien zu verkünden. Später dann sei sein Leichnam auf wundersame Weise nach seinem Martyrium im Osten dorthin zurückgelangt, um dann im 9. Jahrhundert dank der Wegweisung eines Sterns wiederentdeckt zu werden. Nehmen wir diese beschönigende Legende, entstanden in den Nebelschwaden Galiciens, einmal einfach so hin und halten wir das Wesentliche daran fest, nämlich die Geburtsstunde des Apostelkults in Compostela (campo stellae), der heiligen Stadt, die seinen Namen annehmen wird. Ihr christlicher Glaube läßt die spanischen Stämmen unter Jakobs Schutz mit heiligem, unbezwingbaren Eifer gegen die arabischen Krieger in den Kampf ziehen, bei denen der Heilige als Ritter an ihrer Seite auftaucht. Von daher ist es nicht verwunderlich, dass das Bildnis des heiligen Jakobus Matamoros (Maurentöter) auf seinem Streitroß, sein Schwert schwingend und gleichzeitig die Ungläubigen zu seinen Füßen tötend, sich bis weit ins 18. Jahrhundert großer Beliebtheit erfreute. Die Nachricht seiner Heldentaten gelangt bis weit über die Pyrenäen hinaus und erregt die Bewunderung des ganzen westlichen Christentums, wo sich gerade der Wunsch nach einem Kreuzzugs gegen die Heiden in herausbildet. Der heilige Jakob hat dort Erfolg, wo Karl der Große zuvor gescheitert war, ausgenommen Katalonien, das zu einem Randgebiet des karolingischen Reichs wurde: er fügt aufs neue das abgetrennte Glied Spanien an den amputierten Körper des christlichen Europas an. Der Jakobsweg wird zur Nabelschnur, die der iberischen Halbinsel alle Reichtümer und Kräfte des Christentums zuführt.

Die Verteidigung des Pilgerpfads begünstigt die Wiederbevölkerung des kastilischen Plateaus, welches die Kalifen von Córdoba nicht wirklich besetzt hatten, denn sie beschränkten sich auf einige Garnisonen in diesem Gebiet. Die Bergbewohner Asturiens, des Baskenlands und Navarras ziehen hinab ins weite Tal des Ebro und auf die Meseta, um dort kleine Dörfer zu gründen, in deren Umkreis sie das Land bebauen. Gegen 900 n. Chr. hat sich die Grenze bereits unbemerkt bis zum Duero vorgeschoben. Gleichzeitig haben katalanische Christen von den Pyrenäen her Barcelona zurückerobert.

Die zweite Welle des christlichen Vorstoßes nach Süden kann den Untergang des Kalifats in Córdoba gewinnbringend umsetzen. Hierbei handelt es sich um den eigentlichen ersten Abschnitt der Reconquista, d.h. um den überlegten politischen Willen, die Gebiete zurückzuerobern. Das Unternehmen wird von Staaten angeführt, die miteinander rivalisieren und dann wieder verbündet sind, die entstehen und sich wieder auflösen und sich dabei unentwegt um die Leitung des Ganzen streiten. Letztere übernehmen nacheinander die Fürstentümer Léon, Navarra und schließlich und vor allem Kastilien. Aufsehenerregende Erfolge verschieben die Grenze immer weiter nach Süden, bis durch den Fall der Königreiche von Toledo im Jahre 1085 und von Saragossa im Jahre 1118 der Besitzstand von Kirche und der des Islams gleich groß werden. Innerhalb von fünfzig Jahren ist das unterworfene Gebiet genauso ausgedehnt wie das zuvor in zwei Jahrhunderten eingenommene. Diesmal allerdings nehmen die Monarchien die Wiederbevölkerung planmäßig in die Hand. Zu diesem Zweck verkünden sie die Fueros, wichtige Privilegien, um Siedler anzulocken. Die dadurch geschaffenen bzw. wiederentstehenden Dörfer und Städte sind mit riesigen Ländereien versehen. Überall wird Werbung getrieben, sogar jenseits der Pyrenäen, um die wiedergewonnenen Territorien zur Blüte zu bringen. Bedeutende Orte festigen ihren beherrschenden Einfluß auf die ländlichen Gebiete, wobei Salamanca, Avila und Segovia eine führende Stellung einnehmen. Die kosmopolitische Stadtbevölkerung bildet eine schon recht differenzierte Gesellschaft, frei und offen für alles, günstig für neue und gewagte Unternehmen. Es handelt sich dabei auch um eine pluralistische Gesellschaft, denn die Christen müssen noch viel von der buntgemischten Kultur mit ihrem Mittelpunkt Toledo lernen. Diese Stadt am Tajo ist ein einzigartiger Schmelztiegel, in dem die Gotteshäuser der drei großen westlichen Religionen Seite an Seite anzutreffen sind, nämlich die Moschee Santo Cristo de la Luz, die Synagogen Santa María la Blanca und El Tránsito - Schmuckstücke maurischer Baukunst, obwohl erst nach der arabischen Besatzungszeit errichtet - und die im Mudejarstil erbauten Kirchen, wie Santiago del Arrabal, wo die moslemischen Handwerker ihr ganzes Können in den Dienst der Sieger und deren Glauben stellten. Denn das christliche Expansionsstreben rührt von der Zunahme der Bevölkerung her, sowie vom Hang zur Herrschaft, und nicht von einem in seinen Ausmaßen noch nicht ergründeten religiösen Fanatismus. Die Person des Cid Campeador illustriert dieses Bestreben ohne Vorurteile: Rodrigo Díaz de Vivar, ein in Ungnade gefallener Vasall des Königs von Kastilien, übt im Tal des Ebro die ungewöhnliche Beschäftigung eines Kondottiere aus - lang bevor dieser Begriff gebräuchlich wurde - und ist nacheinander Söldner und dann Feind der moslemischen Fürsten, bis ihm die Einnahme des Königreichs von Valencia gelingt, das er dann bis zu seinem Tode regiert.

Eine entscheidende Etappe wird im 13. Jahrhundert zurückgelegt, durch die sich Wesen und Sinn der Reconquista von Grund auf ändern. Alles beginnt mit einem Paukenschlag: zum ersten und einzigen Mal vereint, schlagen die christlichen Fürstentümer der Pyrenäenhalbinsel in einem gemeinsamen Kreuzzug die Armee der Almohaden im Jahre 1212 bei Las Navas de Tolosa, in der Sierra Nevada, in die Flucht. Damit wird der Andalusien schützende Riegel gesprengt. Zwei kastilische Könige übernehmen es, die einmal geschlagene Bresche zu erweitern, nämlich der später heilig gesprochene Ferdinand III. der Eroberer und sein Sohn Alfons X. der Weise, Gesetzgeber und Organisator. Die Bedingungen der Wiederbesiedelung sind diesmal von Grund auf anders. »Kapitulationen« genannte Verträge, die mit den maurischen Herrschern nach ihrer Niederlage geschlossen werden, sehen oft die Abwanderung der Araber aus den Städten vor, wobei diese dann quasi menschenleer übergeben werden müssen. So ist Sevilla eine verlassene Stadt, als der heilige Ferdinand dort als Sieger einzieht. Nun ist es aber so, dass die christlichen Siedler nicht zahlreich genug sind, um die Abgewanderten in den städtischen und ländlichen Gebieten zwischen Tajo und Meer vollständig zu ersetzen. Diese, wie eine Nacht- und Nebelaktion durchgeführte Wiedereroberung, hat also zwangsläufig eine viel lockere Beschäftigung mit dem Boden zur Folge sowie einen Niedergang der Metropolen, die unter arabischer Herrschaft eine Blütezeit erlebt hatten. Ausgedehnte Flächen im Süden Neukastiliens, in der Mancha, der Extremadura und in der Sierra Morena werden von nun an also als Weideland genutzt und nehmen im Winter die Herden aus den Bergen im Norden auf, was die Wollerzeugung belebt. Als Alfons X. im Jahre 1273 der Schafzüchter-Vereinigung im Reich, La Mesta genannt, einen privilegierten Status einräumt, festigt er dadurch den Einfluß einer mächtigen, sich bis ins 19. Jahrhundert hinein haltenden Lobby. Dies geschieht zwar auf Kosten der Anbauflächen, die von da an durch den Viehauftrieb eingeschränkt werden, gleichzeitig aber wird Kastilien zum bedeutenden Exporteur von Wolle, einem überall in Europa beliebten Rohstoff, der den Kaufleuten von Burgos zu Reichtum verhilft. Außerdem belohnt die Krone, der es an einer ständigen Armee mangelt, all diejenigen äußerst großzügig, die ihr tatkräftige Hilfe bei den siegreichen Eroberungszügen leisteten: in der Extremadura und der Mancha werden so militärischen Orden ausgedehnte Landstriche anvertraut, wobei sie dann Ruhe und Ordnung zu gewährleisten haben. Obwohl ursprünglich nur aus Mönchen zusammengesetzt, wie die Templer oder der Deutsche Ritterorden beispielsweise, lassen sie sehr rasch auch weltliche Ritter zu, die als Lehen auf Lebenszeit Komtureien erhalten. So entstehen der Orden der Sankt-Jakobsritter, zur Verteidigung des Pilgerwegs gegründet, der sich dann in Neukastilien ausbreitet, sowie die Orden von Alcántara und Calatrava. Letzterer leitet seinen Namen vom festungsartigen Kloster ab, das droben in der Sierra Morena wie ein Adlerhorst thront und die Hochebene von La Mancha vor andalusischen Übergriffen bewahren soll. Der Süden der Meseta und der Extremadura werden auf diese Weise zu Staaten im Staat. Dort, wie auch im fruchtbaren Teil Andalusiens um den Guadalquivir, kommt die Überlassung von Ländereien dem Adel zugute, der daraus Reichtum und Macht schöpft und sich als Herr in den verlassenen Städten niederläßt. So entsteht der spanische Großgrundbesitz.

Das unruhige ausgehende Mittelalter ermöglicht es dem Adel, sich gegen Monarchen durchzusetzen, die durch Tragödien in ihren Herrscherhäusern geschwächt waren, wie etwa die Ermordung von Peter dem Grausamen, König von Kastilien, durch seinen Halbbruder Heinrich von Trastamare beweist. Diese dünkelhaften Magnaten gefallen sich darin, ihre Macht nach außen hin zu zeigen, indem sie auf ihren Lehngütern trutzige Festungen errichten lassen, die dem Reisenden - von ihren klotzigen Mauern und uneinnehmbaren Bergfrieden herab - gleichsam die Stirn bieten. Im Laufe der Jahrhunderte baufällig geworden, verschmelzen diese Burgen langsam zu einer Einheit mit der Landschaft. In unserer Zeit haben nicht wenige von ihnen eine nicht vom Erbauer vorgesehene Verwendung gefunden: als Archiv in Simancas auf Geheiß von Karl V., als Parador, wie in Oropesa oder in Jarandilla, als Weizensilo, wie in Torrelobatón, oder aber als Schule, wie beispielsweise das bemerkenswerte Wunderwerk von Coca, dessen rosa Ziegelsteine, von Mudejaren bearbeitet, im Herzen der Kiefernwälder von Segovia in den Himmel ragen.