Ästhetik

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Ästhetik

Paris war einem Ausspruch von Montesquieu zufolge eine schöne Stadt, die Abscheuliches
in sich barg. Analog dazu wäre London eine häßliche Stadt, in der sich manch
Schönes finden läßt. Wohl besticht sie nicht durch architektonische Harmonie,
denn ebenso wie das linguistische Zentrum fehlt in England der autoritär gelenkte
Urbanismus nach Art eines Haussmann wie in Paris. Stattdessen erweckt London
den Anschein eines zufälligen, unförmigen Ballungsgebietes ohne Bezugspunkt
und Symmetrie. Weil sich die architektonische Gestaltung auf das Nordufer konzentriert,
tritt das Ungleichgewicht noch deutlicher hervor. Wohl hat die Themse Turner
und Whistler inspiriert sowie zahlreiche durchreisende Maler, deren berühmtester
ohne Zweifel Canaletto war, doch schlägt auch sie einen Bogen um das »Zentrum«.
Die industrielle Revolution hat die im 18. Jahrhundert gefeierte Pracht der
Ufer eingeschwärzt. Der Strom ist nur noch zu bestimmten Tageszeiten schön,
an bestimmten Orten: zum Beispiel an der Waterloo-Brücke oder dem Chelsea Embankment.

Enttäuschung bis Entsetzen erfaßt den Besucher unweigerlich angesichts »touristischer«
Attraktionen wie Piccadilly und Leicester Square. Das Beste in London trifft
man meist unerwartet dort, wo Stil, Material und Anordnung merkwürdig-bemerkenswerte
Verbindungen eingegangen sind: die Biegung einer schummrigen Allee mündet unverhofft
in alte Pferdeställe und in kleine Straßen, deren Puppenhäuschen mit bunten
Türen und Fenstern von üppigen Parkbäumen beschattet werden. Dahinter sticht
die Silhouette eines riesigen, post-modernen Gebäudes vom düsteren Himmel ab.

Ein Streifzug durch London ist vergleichbar mit dem Stöbern zwischen alten
Theaterkulissen, wo klassische Eleganz, bürgerlicher Protz und proletarisches
Elend dicht beieinanderliegen. Rote Ziegel und schwarze Eisenstiegen im Hinterhof,
weißer Stuck und leuchtende Farben an der Gartenfront - in London begegnet man
solch heftigen Kontrasten zwischen heute und gestern auf Schritt und Tritt.
Sie gehören übrigens zu den bemerkenswertesten Zügen dieser in fortwährender
Erneuerung sich verjüngenden Stadt. Eine weitere Besonderheit Londons sind seine
kleinen Plätze, die Squares, Terrassen und Gärten, die selbst in verlottertem
Zustand immer noch schön sind.