Die Londoner

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Die Londoner

Das wichtigste für einen Londoner ist freilich nicht die Stadt, sondern es
sind ihre Einwohner. London ist stolz auf seine Menschen, ob sie nun berühmt
sind oder unbekannt, tot oder lebendig. Selbstverständlich werden die bedeutenden
Persönlichkeiten aus Geschichte, Literatur, Kunst und Wissenschaft gewürdigt,
weisen Gedenktafeln aus Keramik auf die Stätten ihres Wirkens hin (im Anhang
die Liste der bekanntesten »blauen Tafeln«).

Der Volksmund bezeichnet die Engländer als kühl, zurückhaltend, phlegmatisch
usw. Doch von welchen Engländern ist hier die Rede? Lauschen wir hierzu einem
Dialog nach Doris Lessing:

»Ich habe einen Anruf von einer Freundin erhalten, die kürzlich vom Kap kam.

- Hey, Doris, sagte sie, wie geht´s Dir und wie kommst Du mit den Engländern
aus?

- Nun, ich habe leider noch keinen gefunden. London ist voller Ausländer.

- Ja, ich verstehe, was Du meinst. Ich habe aber einen getroffen! Wirklich.
Es war in einem Pub. Als ich ihn sah, wußte ich sofort, dass er ein richtiger
war. Groß, asketisch, reserviert. Vor allem aber trug er alle Anzeichen stolzer,
introvertierter, magenverkrampfender Melancholie zur Schau. Wir redeten über
das Wetter und die Welt, über die Arbeiterpartei. Schließlich platzten meine
Freundin und ich heraus: »Endlich haben wir einen Engländer getroffen!« Da richtete
er sich mit blitzenden Augen auf und verbesserte uns nicht ohne Nachsicht, aber
doch ziemlich von oben herab: »Ich bin kein Engländer, ich habe eine walisische
Großmutter« ...

»Die traurige Wahrheit liegt darin, dass die Engländer die bedrohteste Minderheit
auf Erden sind. Man hat es ihnen so eingebleut, dass ihre Küche, ihr Heizungssystem,
ihr Liebesleben, ihr Auftreten im Ausland und ihr Benehmen zuhause unter aller
Kritik sind, dass sie sich beim Anblick eines Fremden sofort tarnen.«

Wenn es stimmt, dass die Engländer so komplexbeladen sind, dass sie sogar ihre
Abstammung verleugnen, dann zeigen sie sich bei anderer Gelegenheit aber doch
vertrauensvoll, selbstbewußt und sogar gefällig. Ihr Bürgersinn ist sprichwörtlich
und wird durch zahlreiche kleine Anekdoten belegt, für die jeder Londoner ein
Faible hat. Etwa die Geschichte einer hochschwangeren Frau, die eines Tages
im Doppeldecker-Bus Wehen bekam, worauf der Fahrer wendete (gar nicht so einfach
im Londoner Verkehr!) und mitsamt allen Fahrgästen zum nächsten Krankenhaus
sauste ... Es gibt sie, die englische Freundlichkeit. Sie ist besonders spürbar
in London und überschreitet die Klassen- und Völkergrenzen. Sie brauchen nur
auf dem Bürgersteig stehenzubleiben, ein Hochhaus zu betrachten, oder den Regen
oder ein beliebiges Detail, um sie herauszufordern: »Kann ich Ihnen helfen?
Haben Sie sich verirrt? Suchen Sie etwas?« In dieser Stadt, deren Ausmaße jedem
das Recht gibt, sich einmal zu verlaufen, wird man Ihnen bereitwillig den richtigen
Weg weisen, ja, man wird Sie sogar dorthin führen.

Verlassen Sie sich auch ruhig auf die Ehrlichkeit der Londoner - eine zwar
schwindende, aber noch immer recht beeindruckende Tugend. Wer sich von den unbeobachteten
Zeitungsstapeln an den Straßenecken oder vor den U-Bahnhöfen bedient, wird den
Kaufpreis stets in die dabeistehende Blechkasse einwerfen. Milch und Sahne,
am frühen Morgen auf den Türschwellen abgestellt, werden dort auch später von
ihrem rechtmäßigen Besitzer vorgefunden. Andersherum: wer vor dem Einsteigen
in die U-Bahn einen Fahrschein zu lösen vergessen haben sollte, kann dies selbstverständlich
auch nachträglich noch tun. Und wer behauptet, nur eine Station vorher zugestiegen
zu sein, dem wird auch dies aufs Wort geglaubt!