Bloomsbury

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Bloomsbury

»Unsere Londoner Ecke ist soviel besser als die anderen. Die Umgebung von Brunswick Square ist völlig anders. Hier atmen wir so gute, frische Luft, dass ich ehrlich gesagt nirgendwo anders leben möchte, denn kein anderer Stadtteil wäre für meine Kinder geeignet. Mister Wingfield denkt, dass die frische Luft von Bloomsbury außerordentlich zuträglich ist« (Emma).

Da klingt einige Ironie bei Jane Austen mit, doch ist Bloomsbury ein seriöses, ja höchst seriöses Viertel, das neben dem British Museum auch die Londoner Universität, die Medizinschulen, Filmstudios und Fernsehsender, die Verlage sowie die großen Buch- und Papierhandlungen um sich versammelt, alles unter dem gönnerhaften Schatten der Bloomsbury Group aus den zwanziger Jahren. Seriös sind auch die zahlreichen Hotels und Restaurants, in denen Fachleute aus der ganzen Welt wohnen. Denn für das geistige Leben in England ist Bloomsbury der Generalstab, das Zentrum, in dem alles entschieden wird.

Das Britische Museum

Wenn ein Museum laut einer Enzyklopädie wirklich »die Anhäufung und Einordnung der Gegenstände von historischem, technischem, wissenschaftlichem und künstlerischem Wert« ist, dann muß das British Museum das Nonplusultra dieser Art sein. Von mehr als eindrucksvollem Ausmaß und Ruf beherrscht das Gebäude den Stadtteil seit 1755. Damals ließ das Museum täglich nur etwa ein Dutzend Besucher ein, die aufgrund ihrer Bewerbungsunterlagen handverlesen wurden! Es stellt die große, nationale Sammlung von Antiquitäten, Stichen und Zeichnungen dar und präsentiert alle Länder sowie die Kulturen aller Zeitalter in verschiedenen Sälen. Folglich sind hier die verschiedenartigsten Dinge zu sehen: skandinavische Schachfiguren aus dem zwölften Jahrhundert, ein in London ausgegrabenes Kriegerschild aus der Eisenzeit, ägyptische Mumien - darunter viele Tiermumien - die berühmten Parthenon-Friese, die einst Lord Elgin »heimbrachte«, das älteste gedruckte Dokument der Welt - die Daimond Sutra aus dem Jahre 868, gefunden in einer Grotte in China - das erste Manuskriptblatt Shakespeares von 1623, eine einmalige Pendel- und Wanduhren-Sammlung, kurzum: genug, um mehrere Aufenthalte in London zu füllen. Gemälde sind jedoch kaum anzutreffen.

Dafür widmen sich verschiedene andere Museen der Malerei, wovon drei aus britischer Sicht besonders bemerkenswert sind: die National Portrait Gallery, die Tate Gallery und das Soane-Museum.

Die British Library

In demselben Gebäude wie das British Museum befindet sich die British Library, drittgrößte Bücherei der Welt nach der Kongreßbibliothek in Washington und der Leninbibliothek in Moskau. Hier taucht man ein in die gedämpfte Stille einer alltagsvergessenen Welt fern aller Niederungen. Das beste Beispiel dafür ist das Interview - halblegendär - mit einem alten Bibliothekar vor seiner Pensionierung, den ein Journalist nach Lenin fragte, der während seines Exils in London regelmäßig in der Bibliothek arbeitete:

»Wer bitte?

- Lenin, erinnern Sie sich nicht?

- Ich habe niemals einen Lenin gesehen.

- Er hieß damals Ulianov.

- Aha, Sie meinen Mister Ulianov! Natürlich kannte ich ihn.

Das war ein sehr höflicher junger Mann. Habe mich oft

gefragt, was wohl aus ihm geworden ist ...«

Die Bloomsbury-Gruppe

Den treffendsten Eindruck von der eigenartigen Stimmung in Bloomsbury vermittelt Virginia Woolf, selbst Symbol dieser literarischen, künstlerischen und mondänen Versammlung, die als Bloomsbury Group bekannt wurde und das intellektuelle Leben in London jahrelang beherrschte:

»Das Erlebnis von Schönheit, mindestens das. Nicht die rohe Schönheit der Augen. Die reine, die wahrhaftige Schönheit drückt sich nicht darin aus, dass Bedford Place zum Russell Square führt. Damit sind nur Geradheit, Leere, die Symmetrie eines Straßenzuges erfaßt. Aber man wird auch erleuchtete Fenster, ein Klavier, ein spielendes Grammophon, eine verborgene Freude finden, die hie und da aufblitzt, wenn durch ein Fenster ohne Vorhänge, durch ein offenes Fenster, Tischgesellschaften sichtbar werden, junge Menschen, die gemächlich auf- und abschlendern, Männer und Frauen, die sich unterhalten, müßige Hausmädchen, die auf die Straße schauen (...), zum Trocknen ausgebreitete Strümpfe auf einem Fenstersims, ein Papagei, Grünpflanzen. (...) Und auf dem großen Platz, wo Taxis eilig hin- und hersausen, verbummeln Pärchen die Zeit.« (Mrs. Dalloway).

Was ist denn nun eigentlich die Bloomsbury Group? Eine Freundesclique, lauter Intellektuelle, alle sehr berühmt: der Wirtschaftstheoretiker J. Maynard Keynes, der Verleger und Schriftsteller Leonard Woolf, Virginia Woolf und ihre Schwester, die Malerin Vanessa Bell, die Kunstkritiker Quentin Bell und Roger Fry, Lytton Strachey, der exzentrische Biograph der Viktorianer, und schließlich der Maler Duncan Grant. Diese kleine Gesellschaft übte in den zwanziger Jahren einen mächtigen Einfluß auf die englische Intelligenz aus, da jeder einzelne auf seinem Gebiet mit Unerhörtem und Niedagewesenem zu glänzen verstand. Nicht zuletzt wurden die Mitglieder der Gruppe wegen der verblüffenden Komplexität ihrer Freund- und Liebschaften bekannt, die seither eine Fülle von Erinnerungen, Biographien, Gegen-Biographien und Kontroversen zutage gefördert haben, wobei Zeugen, Historiker und Erben der »Bloomsbury« erbittert über die wahren Gefühle Rogers für Vanessa, Duncans für Roger, Maynards ... gegen Virginia usw. streiten. So zahlreich sind die Bücher über die Bloomsbury Group - und so kleinkariert in der Analyse der jeweiligen Seelenzustände - dass dieses Thema bereits lächerlich geworden ist. So versicherte P.G. Woodehouse, dass es schwierig wäre, einen Ziegelstein über Russell Square zu werfen, ohne einen Autor zu treffen, der sich über diese Fragen ausgelassen habe. Anthony Burgess kündigte eines Tages an, dass er nun seinerseits ein Buch über die Bloomsbury Group verfassen werde, und zwar unter dem Gesichtspunkt der Körpergerüche, der bisher als einziger von den Biographen vernachlässigt worden sei.

Zu derselben Zeit, als sich die Bloomsbury Group am Fitzroy Square traf, diskutierte zwei Straßen weiter eine andere und ebenso interessante Intellektuellengruppe im Salon von Lady Ottoline Morell am Bedford Square. Zusammen mit ihrem Geliebten, Bertrand Russell, empfing sie dort unter anderem Aldous Huxley, D.H. Lawrence, E.M. Forster und den Tänzer Nijinski. Eines Morgens, als Ottoline Morell, Russell, Nijinski und der Dekorateur Bühnenbildner Léon Bakst aus dem Hause traten, erblickten sie Duncan Grant, der auf Bedford Square mit Freunden Tennis spielte. »Wie er sich in Szene setzt ...«, grommelte Bakst.

In der 1836 gegründeten Londoner Universität wurde der Kultur eine weitere Tempelstätte geweiht. Da jüngeren Datums als ihre überlegenen Rivalinnen Cambridge und Oxford, konnte sie die Karte des Modernismus und Liberalismus ausspielen. Erinnern wir uns, dass sich in Oxford erst ab 1860 auch Nichtanglikaner einschreiben durften; und dass Frauen bis 1949 in Cambridge zwar Kurse belegen durften - in einem besonderen Gebäude - aber nicht zur Prüfung zugelassen wurden. Im Gegensatz dazu waren die Gründer der Universität zu London entschieden »weltlich« und öffneten ihre Pforten sogleich den Juden und Katholiken, etwas später auch den Frauen, nämlich 1878.

Shopping

Tausende von Touristen steigen in der Oxford Street zum Shopping aus, und man darf sich wohl fragen, warum ... Immerhin ist dies ein eher trauriger Ort, der anmutet wie eine größere High Street, die typische Geschäftsstraße in englischen Städten. Wie in den anderen High Streets auch, befinden sich hier die Filialen von Kaufhäusern wie Marks & Spencer, British Home Stores, Boots und Woolworth am Ende der Skala, aber auch Selfridges, Debenham´s und John Lewis, den Tempeln des britischen Konsums. Garantiert gibt es hier die gleichen Waren, die gleichen Auslagen, die gleichen Schaufenster wie in Glasgow oder Brighton. Wenngleich sich diese Unternehmen seit einigen Jahren um Modernisierung bemühen, ist die Bekanntschaft mit ihnen nur Leuten anzuraten, die sich gerne ins Gewühl stürzen.

Ebenso überlaufen, aber raffinierter, nimmt sich die Regent Street mit dem Hochhaus von Liberty and Co. im Tudorstil aus, das allgemein bekannt ist für edle Stoffe und Seiden, sowie Hamley´s, größtes Spielwarengeschäft der Welt.

Die Bond Street führt geradewegs in den Luxus hinein: dort bietet sich Gelegenheit für die schicksten Einkäufe in London, abgesehen davon, dass die Boutiquen die gleichen sind wie in München, Paris oder Mailand. Immerhin gibt es in London die besten französischen Weine, die feinsten Zigarren, die vornehmsten Hemden, die am sorgfältigsten geschneiderten Anzüge, die teuersten Gewehre und die klassischsten Schuhe überhaupt.

Silhouetten

Um die Straßenecke spiegeln sich in den modernen Glasbauten die gigantischen Umrisse des Post Office Tower, des Fernmeldeturms, der zum Zeitpunkt seiner Errichtung in den sechziger Jahren höchst umstritten war, heute aber zum festen Bestandteil des Londoner Stadtbilds gehört, das sich freilich von Tag zu Tag ändert.

Selbst Bloomsbury verliert langsam seine märchenhafte Ruhe. Unter dem Druck der Geschäftsleute werden Squares und ehrwürdige Häuser zunehmend durch - nicht immer gelungene - Hochhäuser ersetzt. Verwaltungs- und Bürogebäude rücken immer näher an die Universität und das Britische Museum, und der dichte Verkehr tut das übrige, um die friedliche, träumerische Atmosphäre zu zerstören, die einst Virginia Woolf schilderte.

Dennoch birgt Bloomsbury noch immer erfreuliche Überraschungen. Wo sich die Gebäude gegenseitig an Häßlichkeit übertrumpfen, entdeckt man in der Bloomsbury Street eine der merkwürdigsten Kirchen von Hawksmoor: St. George-in-Bloomsbury. Innen gleicht das Gebäude einem bürgerlichen Speisesaal. Doch sein Äußeres besticht als barocker Karneval: der Portikus ist von einem bizarren Kirchtürmlein gekrönt; ein pyramidenförmig angelegtes Treppchen führt zu einer Statue, die Georg I. in einer römischen Toga darstellt ... angeblich ließ sich Hawksmoor durch das Mausoleum von Halikarnassos anregen, wie es Plinius beschreibt. Ursprünglich vervollständigten Löwen und Einhörner zu Füßen des großen Königs das Bild. Da jedoch eine solche Anhäufung die Viktorianer schockierte - die doch für ihren schlechten Geschmack und ihre Vorliebe für schräge Zusammenstellungen bekannt sind - wurde die ganze Menagerie wieder entfernt.