Finanzen

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Finanzen

Vielen Leuten fällt beim Stichwort City zuerst die Finanzwelt ein. Ihre Aushängeschilder
sind die Börse (Stock Exchange), Lloyd´s Versicherungsimperium, der Royal Exchange
und die »alte Dame aus der Threadneedle Street« oder, anders gesagt, die Bank
von England, um die sich zahlreiche andere Unternehmen scharen: Geschäftsbanken,
Börsenmakler, Handelsbanken - einst die mächtigsten Finanzinstitute - Rohstoffmärkte
für Tee, Pelze und Elfenbein. Nicht zu vergessen der berühmte Baltic Exchange,
ein riesiger, bildschöner Saal, wo Reeder und Kaufleute etwa Dreiviertel der
weltweiten Handelsschiffsbewegungen steuern.

Die 1694 gegründete Bank of England, die »Bank der Banken«, kontrolliert die
Geldmenge, reguliert die Kredite und beherrscht die finanziellen Transaktionen,
die bis zum vergangenen Jahrhundert in den bekannten Coffee Houses abgeschlossen
wurden. Tatsächlich lernten die Engländer den Kaffee lange vor dem Tee kennen
und schätzen. Dieser Brauch stammt aus dem 17. Jahrhundert. Damals waren die
Jobber und Broker, die Beteiligungsgeschäfte im Auftrag ihrer Klienten tätigten,
aus der Royal Exchange hinausgeworfen worden. So verlegten sie ihr lärmendes
Metier in tolerantere Gegenden, insbesondere in Jonathan´s Coffee House.

Die Aktienbörse oder die Stock Exchange wurde im 18. Jahrhundert eingerichtet.
1972 weihte die englische Königin ihren derzeitigen Sitz ein, obwohl Frauen
generell erst ein Jahr später Zutritt erhielten. Die Spekulanten heißen hier
entweder Bulls (Stiere), wenn sie Aktien im Vertrauen auf deren steigenden Wert
kaufen, oder Bears (Bären), wenn sie mit fallenden Aktien spekulieren. Die Stags
(Hirsche) reservieren sich Aktien, bevor diese überhaupt auf den Markt kommen,
um sie sofort mit Profit weiterzuverkaufen. Dieses Großwild darf sich auf dem
Parkett des Stock Exchange ungehindert austoben, bis irgendwann betroffene Stille
einkehrt, so wie am 27. Oktober 1987, der in die Londoner Geschichte als Big
Bang eingegangen ist.

Dieser phänomenale Schlag ereignete sich jedoch nicht im Gefolge einer jener
Katastrophen, die London in der Vergangenheit periodisch heimzusuchen schienen.
Er entstand im Gegenteil aus dem Erfolg der City-Unternehmen. Zwei spektakuläre
Veränderungen standen ihm Pate: einmal die Einführung eines Computernetzes,
welches dem Umherrennen von unzähligen Boten mit verschlüsselten Nachrichten
für die Stiere, Bären und Hirsche ein Ende setzte. Schweigsam übermitteln die
Computer die Notierungen aller ausländischen Börsen, schweigsam verarbeiten
sie die per Tastatur eingegebenen Angebote und Nachfragen. Auf halbem Weg zwischen
Tokio und New York liegt London geradezu ideal als Zwischenstation auf dem rund
um die Uhr bewegten Weltmarkt.

Die zweite Veränderung war weniger offensichtlich, dafür um so folgenschwerer:
es handelte sich um die Abschaffung des Börsenmakler-Monopols, wobei alle Geschäftsbanken
Zugang zu dem Computernetz erhielten und gleichzeitig zu einem Markt, auf dem
wie wild spekuliert wurde. Nachträglich scheint die Bezeichnung Big Bang wohlverdient,
da das Computersystem im großen Krach von Oktober 1987 den allgemeinen Kurssturz
noch verschlimmerte, indem es jeden Verlust sofort auf die Angebote übertrug
...

Thomas Gresham, ein bekannter Finanzmann der Epoche von Königin Elisabeth,
hatte als erster einen Geldmarkt am heutigen Sitz des Royal Exchange eingerichtet.
Das wundervolle Gebäude beherbergt jetzt den London International Financial
Future Exchange. Er ist viel interessanter zu besichtigen als die moderne Stock
Exchange, weil hier noch die Kurse ausgerufen werden. Den jungen Leuten - gelbe
Jacken für die Runners, rote für die Traders - die hier entsprechend einem kodierten
Ruf- und Gebärdensystem Geschäfte abwickeln, ist er heilig. Hier wird nicht
weniger als die Zukunft verwettet, denn es geht um den Kauf oder Verkauf von
Waren, die noch gar nicht auf dem Markt sind: Tresortitel, angekündigte Aktien
oder zu erwartende Devisennotierungen. Runner und Trader müssen jung sein -
nicht älter als dreiundzwanzig - denn es gilt schnell und folgerichtig zu denken.
Ein Runner muß in der Lage sein, mit Millionenbeträgen kopfzurechnen, während
er zwischen zwei Maklern (Brokers) hin- und herrennt. Puterrot oder bleich vor
Aufregung hüpfen sie rastlos umher und kauen an den Fingernägeln, wann immer
sie ihre Hände nicht für ihre eigentümliche Zeichensprache brauchen.

Lloyd´s sagenhafte Geschichte hängt wiederum mit den Handelsschiffen in der
Geschichte des einstigen Weltreiches zusammen und mit den Versicherungen zum
Schutze ihrer Reisen und Frachten. Schon im 17. Jahrhundert war es üblich, dass
sich Kaufleute, Kapitäne und Reeder in Lloyd´s Coffee House trafen. Die Versicherungsagenten
hießen damals Underwriters (Unterzeichner). Bis heute ist Lloyd´s schlicht ein
Zusammenschluß solcher Underwriters geblieben, nicht etwa ein einziges Unternehmen,
die das Risiko absichern. Die Geschäftsangebote werden ihnen in dem weitläufigen
Verhandlungssaal von Brokern zugetragen, die als Interessenvertreter der Klienten
die Konkurrenz unter den Underwriters beleben.

Lutine Bell, eine Schiffsglocke im Underwriting Room, ist das einzige Überbleibsel
einer französischen Fregatte, die im Jahre 1799 eine Ladung von Gold und Silber
auf den Meeresboden fuhr und Lloyd´s damals eineinhalb Millionen Pfund Sterling
kostete. Seither läutet diese Glocke immer dann, wenn wichtige Neuigkeiten zu
melden sind: ein Glokkenschlag für gute, zwei Schläge für schlechte Nachrichten.
Das in der Besuchergalerie ausliegende Schadensregister, das Loss Book, blieb
auf der Seite aufgeschlagen, wo der Untergang der Titanic vermerkt wurde.

Wohl scheuen die Unterzeichner vor reiner Spekulation zurück, doch sind sie
für Extravagantes durchaus aufgeschlossen; ob es nun darum ging, die Beine von
Marlene Dietrich zu versichern oder eine Police für Whiskyfabrikanten auszustellen,
die eine Prämie für den Fang des Ungeheuers von Loch Ness ausgesetzt hatten.