Nachbarschaften
Nachbarschaften
Trotz ihrer Leidenschaft für Gedenkveranstaltungen sind die Londoner durchaus
modernistisch. Es hat den Anschein, als könne die City das Bauen nicht mehr
lassen, das sich seit dem Großen Brand über die Nachkriegszeit unentwegt fortgesetzt
hat. Ende der sechziger Jahre wurden Bauvorhaben in Angriff genommen, deren
Ausmaß jenes von 1945 noch übersteigt. Im Jahre 1987 verursachte Prinz Charles
einen ordentlichen Skandal, als er laut kundtat, was ganz London insgeheim schon
wußte: dass St. Paul mittlerweile von abscheulichen Betonbauten erdrückt werde.
Nun darf dies alles wieder abgerissen werden, damit die Kathedrale Luft bekommt
und der Dom endlich wieder weithin sichtbar wird. Allerdings macht dieses Versteckspiel
ja gerade einen Reiz der City aus: die plötzliche Entdeckung der ebenmäßigen
Kuppel am Ende von engen Straßen mit ihren düsteren Hochhäusern.
Daneben gibt es auch durchaus bemerkenswerte Bauwerke, vor allem den eleganten
Turm der National Westminster Bank, der 1980 nach Plänen von R. Seifert hochgezogen
wurde. Bei klarem Wetter kann man von der Aussichtsplattforn aus die Mündung
der Themse und sogar die Südküste Englands erkennen.
Der neue Sitz der Versicherungsgesellschaft Lloyd´s, Markenzeichen Richard
Rogers (Mitkonstrukteur des Centre Pompidou in Paris), entfaltet eine glänzende
Pracht aus poliertem Aluminium, Stahl und Glas. Das Tageslicht wird in einem
Fensterpalast eingefangen und von den in Beton eingelassenen, riesigen, kreisrunden,
schwarzen Reflektoren geschluckt. Am späten Vormittag halten sich bis zu fünftausend
Menschen im Underwriting Room, dem Hauptgeschäftsraum, auf. Makler und Versicherungsagenten
sitzen sich in den antiken, kirchenbankähnlichen Boxen gegenüber und studieren
den großen Times-Atlas, um darauf die Schiffsbewegungen nachzuvollziehen.
Wenige Schritte weiter blüht einer der reizvollsten Märkte Londons, der viktorianische
Leadenhall Market zwischen eierschalen- und weinfarbenen Säulen, die von den
steinernen Drachen der City bewacht werden. Seine Fleisch-, Fisch- und Gemüseauslagen
bieten klassische Beispiele der jahrundertealten englischen Dekorationskunst.
Auffallend sind der merkwürdige Zuschnitt der Fleischstücke und die stets als
Blickfang angeordneten, geräucherten Schellfische und Aale, letztere in Form
von jellied eel (Aal in Gelee), einer traditionellen Cockney-Spezialität.
Eine merkwürdige Nachbarschaft bildet der große Fleischmarkt Smithfield Market
im Norden der City mit einem der ältesten Londoner Krankenhäuser, St. Bartholomew´s,
im Volksmund einfach »Barts« genannt. Man kann sich unschwer ausmalen, dass diese
Nähe Stoff für andauernde und besonders geschmacksvolle Witze gibt, denn makabre
Späßchen entsprechen nun einmal dem Lokalgeist ebenso wie der nationalen Vorliebe
für grausamen und schwarzen Humor. Sofort hinter dem Krankenhaus befindet sich
ein sehr schönes romanisches Gebäude, St. Bartholomew-the-Great, das ebenso
wie die St. John´s Chapel im Tower von den Katastrophen der Vergangenheit ausgespart
wurde. Jeden Abend stimmen hier Amateurchöre ihre Hymnen zum Evensong (der gesungenen
Vesper) an. Gehen Sie unbedingt hin: viele Engländer erhalten ihre musikalische
Ausbildung in der Schule, und die Ergebnisse sind selten enttäuschend, zumal
was das besondere Repertoire der von Männern besetzten Altstimmen betrifft.