Der Blitz

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Der »Blitz«

Wie schon das Große Feuer, zerstörte der »Blitz« die meisten Kirchen der City,
und zwar hauptsächlich die von Wren erbauten. Der deutsche »Blitzkrieg« ging
1940 zuerst über den Londoner Docks nieder, tötete mindestens fünfzehntausend
Menschen und zog drei Millionen Wohnungen in Mitleidenschaft. Ein Drittel der
City wurde dem Erdboden während der siebenundfünfzig Nächte lang - und oft auch
tagsüber - fortgesetzten Bombenangriffe gleichgemacht. Inmitten der Trümmer
blieb St. Paul allein stehen. »Die Raketen gehen von Westen nach Osten herunter,
auf der anderen Seite von Charlotte Street. Wenige Sekunden später, ohne Vorwarnung,
eine enorme Explosion. Uns bleibt gerade die Zeit, uns zu ducken, bevor die
Geschäftsfassade über unseren Helmen zerstiebt« (Graham Greene).

Für Paul Morand war »die schrecklichste Nacht jene vom Sonntag, 29. Dezember
1940. Sechzig Brände, zweihundert Tote. Der Guildhall hatte kein Dach mehr,
das Ratszimmer und der Ältestensaal waren zerbombt, Paternoster bis auf den
Grund abgebrannt. Im Januar und März 1941 kam die Reihe an den Templebezirk,
seine wunderbare kleine romanische Kirche und den mittleren Templebereich. Am
16. April fielen hunderttausend Bomben auf die City. Der 10. Mai bedeutete das
Ende für die Kirche im Templebezirk. Zertrümmert waren ihre herrlichen Grabfiguren,
zerstört die Guildhall, beschädigt das British Museum, der Lambeth-Palast, die
Residenz des Lord Mayor, das Rathaus, Mansion House, verwüstet all die Kirchen
von Wren.«

Wie schon dreihundert Jahre zuvor, gingen die Engländer 1945 an die Arbeit
und richteten die City in zehn Jahren mit besonnener Entschlossenheit und nicht
ohne Humor wieder her: etliche Londoner äußerten sich erleichtert darüber, dass
sie nun endlich ihre viktorianischen Scheußlichkeiten und andere Ungetüme losgeworden
seien, und zeigten kein Bedürfnis nach Ersatz.

Business is Business

Die moderne Prägung der City stammt aus dem 19. Jahrhundert. Damals sank die
Einwohnerschaft von 130.000 auf 27.000 Menschen. Die Handelsstadt hatte sich
zur Bürostadt gewandelt. Deren Angestellte kamen per Bus zur Arbeit in die City,
wohnten aber in den »alten Vorstädten« Hackney, Holloway und Islington, das
sich zur Künstler- und Intellektuellenkolonie mauserte. Heutzutage zählt die
City nurmehr viertausend Einwohner. Jeden Morgen schwillt die Bevölkerung hier
jedoch auf 130.000 an, um abends wieder über London Bridge abzuwandern, die
deshalb zu den Hauptverkehrszeiten ein beeindruckendes Schauspiel bietet.

Eingezwängt in ihre »square mile« ist die City eine Metapher Englands - seines
Rechtssystems, seiner vergangenen und gegenwärtigen Bankgeheimnisse und seiner
Heimlichtuerei, seiner Begeisterung für Rituale, seiner Großhandelsmärkte, in
denen lebende Schafe ebenso wie Teesäcke oder Diamanten zu abstrakten Zahlen
und Gewichten werden. Die City ist gleichbedeutend mit einer einmaligen Regimentsführung
der Geschäftsleute, mit der »Cockney«-Kultur (ein echter Cockney muß unbedingt
in Hörweite der Kirchenglocken von St. Mary-le-Bow zur Welt gekommen sein),
mit dem Londoner Tower, Schauplatz finsterer politischer Machenschaften und
unvergessener Hinrichtungen, mit den benachbarten Docks, auf denen sich Reichtümer
aus aller Welt ausbreiten. Und dann ist da noch die außergewöhnliche Dichte
von Kirchen: neununddreißig tragen die Handschrift Christopher Wrens, der ihre
Kirchtürme mit Vorbedacht so um den Paulsdom gruppierte, dass dieser sie alle
überragte und quasi das Tüpfelchen auf dem »i« - nein, auf dem Stadtbild - darstellt.
In diesem Gedränge gleicht kein Kirchturm dem anderen. Zu den erstaunlichsten
Schöpfungen Wrens gehört der Turm von St. Bride (wie die Braut), der so sehr
einer zusammengesetzten Festtagstorte ähnelt, dass kein Londoner sagen kann,
was zuerst da war: der Kuchen oder der Turm. Die berühmte Skyline der Wren-Bauwerke
ist heute kaum noch erkennbar. Neuere Gebäude verstellen den Blick auf die Kirchen
und Kuppeln und auf die klassischen oder barokken Friese.

Zu den religiösen Anziehungspunkten zählt die Statue eines Mannes in der Kirche
St. Andrew Undershaft: es handelt sich um John Stow, den ersten Historiker Londons,
der 1598 den berühmten »Survey of London«, eine ausführliche Erhebung von Fakten
über die Stadt, veröffentlichte. Die Figur hält einen echten Gänsekiel in der
Hand. Alljährlich bringt der »Lord Mayor« eine neue Feder zu Ehren des talentierten
Autors.