Rituale
Rituale
Rituale und Zeremonien nehmen einen zentralen Platz im politischen Leben der
City ein. Einige Korporationen gedenken während ihrer Bankette noch heute König
Eduards des Märtyrers, der im Jahre 978 hinterrücks erstochen wurde, als er
gerade einen Weinkelch leerte. Um derlei ärgerlichen Unfällen vorzubeugen, aber
auch zum Ausdruck ihrer feierlichen Ablehnung von Verstößen gegen das »fair
play«, trinken die Geladenen nur aufrecht und Rücken an Rücken stehend. Somit
beschützen sie sich gegenseitig und können sicher sein, dass etwaige Verräter
nicht ungesehen bleiben.
Bei den Tuchmachern fragt die Bedienung nach jedem Festessen im »Hall«: »Sir,
speisen Sie mit dem Magistratsbeamten oder mit Lady Cooper?«, was nichts anderes
bedeutet als: »Möchten Sie Cognac oder Gin trinken?« Diese Redensart geht auf
das 17. Jahrhundert zurück. Damals hatte Lady Cooper der Tuchmacherzunft vorgeworfen,
ihren Mann mit schlechtem Kognak umgebracht zu haben. In ihrem Testament vermachte
sie der Zunft eine stattliche Summe, damit künftig zum Abschluß jedes Mahls
Gin serviert werden konnte, der soviel gesünder sei. Diese »historischen Spielchen«
sind bei den Engländern überaus beliebt.
Hochgehalten wird auch das Andenken an Dick Whittington, der im 15. Jahrhundert
dreimal zum Lord Mayor gewählt worden war. Er ist eine wichtige Figur in der
Londoner Folklore, weil er, als Habenichts geboren, später ein Vermögen erwarb
und dieses für Wohltätigkeitszwecke der City hinterließ. Diese einfache Geschichte
wird von einer Episode geschmückt, die Whittingtons Abreise aus London in Begleitung
seiner Katze schildert: als er den Highgate-Hügel erreicht hatte, hörte er die
Glocken von St. Mary-le-Bow in der City läuten: »Komm zurück, Dick Whittington,
kehr´ um und Du wirst dreimal Lord Mayor werden«, verkündeten sie. Dieses Rührstück
wird häufig als Teil der Weihnachts-Pantomimen aufgeführt, ein von den Engländern
im allgemeinen, von den Londonern und den Kindern insbesondere geschätztes traditionelles
Schauspiel. Die Themen sind bekannten Kinderreimen entliehen oder nehmen alle
möglichen nationalen Mißgeschicke aufs Korn. Als Vorlage für die musikalische
Begleitung dienen aktuelle Volkslieder. Der Gesamteindruck ist eine typische
Londoner Mischung aus Romantik und Patriotismus. Travestiten-Rollen sorgen für
das Burleske: der junge Premier wird von einer Frau gespielt, seine Mutter von
einem Mann usw. Am allerbeliebtesten sind natürlich die Rollen der garstigen
Stiefschwestern von Cinderella (Aschenputtel).
In manchen Viertel findet am Himmelfahrtstag das »Grenzstein-Schlagens« (Beating
the Bounds) statt: Meßdiener laufen rund um die Grenzen der Pfarrgemeinde und
klopfen die Grenzsteine feierlich mit Weideästen ab, gefolgt von den Gläubigen
und Schaulustigen. Dieser Brauch stammt aus einer Zeit, als dies die beste Art
war, um dem leseunkundigen Volk die Bedeutung solcher Steine zu erklären und
um die Felder vor bösen Mächten zu schützen. Mehrere von ihnen sind erhalten
geblieben und finden sich an den unerwartetsten Stellen wieder, so über der
Bar im Pub George and Vulture in der Lombard Street oder sogar mitten in der
Themse, wie der Grenzstein der Gemeinde St. Clement Danes, der nur von einem
Boot aus geschlagen werden kann. Ähnliche Zeremonien sind zu Ostern bei uns
aus der Lausitz bekannt, wo die Fluren zu Pferde umritten werden.
In einer kleineren Zeremonie überreichen die Nachkommen von Sir Robert Knollys,
einem mächtigen Kaufmann der City im 14. Jahrhundert, dem Lord Mayor alljährlich
eine rote Rose als Abbitte für eine Brücke, die Sir Robert 1346 über die Themse
geschlagen hatte, ohne zuvor die Erlaubnis des damaligen Mayor einzuholen. So
schön kann Sühne sein.