Wohnhaus eines Gentlemans
Das Wohnhaus eines Gentleman
Im Süden von Bloomsbury, in Lincoln´s Inn Fields - dem größten Londoner Platz,
am Rand des Anwaltsviertels und teilweise von Inigo Jones gestaltet - lockt
das extravaganteste, exzentrischste und zweifellos auch amüsanteste aller Londoner
Museen: das Haus von Sir John Soane, einem »klassischen« Architekten des frühen
19. Jahrhunderts. In den winzigen Zimmerchen und den engen Fluren, in den Kellern,
Höfchen und Gärtchen stapelt sich ein unglaublicher Haufen bunt zusammengewürfelter
Dinge wie Gemälde, antike Statuen, Sarkophage, seltene Bücher, Manuskripte und
alte Landkarten, die bereits zu Lebzeiten des Hausherrn zum Inventar und Mobiliar
gehörten. Den richtigen Eindruck von diesem einzigartig englischen Museum bekommt
man schon beim Lesen der Raumbezeichnungen. Da gibt es eine Mönchs-Stube, ein
Grabzimmer, die Katakomben, eine Krypta, ein Morgenzimmer, eine Shakespeare-Ecke
usw. Im Picture Room hängen zwei Gemäldereihen von William Hogarth, darunter
Rake´s Progress (Entwicklung eines Lebemanns). Hogarth hatte im 18. Jahrhundert
eine wahre Renaissance der britischen Malerei begründet, die zuvor zwei Jahrhunderte
lang in der Nachahmung ausländischer und vor allem holländischer Werke erstarrt
war. Als trotziges Genie behauptete er sich zu einem Zeitpunkt, da die englische
Kunst der Langeweile zu verfallen drohte. Sein von unglaublicher Energie getragenes
Werk hauchte ihr neues Leben ein. Hogarth malte nicht nur eine beißende Satire
auf seine Gesellschaft, sondern trug auch durch schriftstellerische Tätigkeit
(etwa die Analyse der Schönheit 1735) zur Reform des herrschenden Geschmacks
bei, indem er deutlich machte, dass Schönheit und Exotik nicht zwangsläufig zusammengehören.
Gerichtsbarkeit
»Die Gerichtsdiener in den Inns of Court sind angehalten, jeden Hausierer sowie
alle ruhestörenden, lästigen und lärmenden Gäste der Örtlichkeiten zu verweisen
(...)«, so das Warnchild am Eingang von Gray´s Inn, eines von vier Inns of Court,
Stammhäuser der englischen Jurisprudenz. Es wird vorausgesetzt, dass jeder weiß,
was in diesen Hallen als lästig empfunden wird. Obgleich inmitten der rastlosen
City und mit ihrer lärmerfüllten Geschäftigkeit herrscht in diesem Hafen der
Erholung und des Friedens beeindruckende Ruhe. Wer keine Zeit hat, Cambridge
oder Oxford zu besichtigen, sollte auf jeden Fall die Inns of Court besuchen,
die durchaus vergleichbar sind: dank ihrer Architektur und der von komplizierten
Hierarchien getränkten Atmosphäre ebenso wie durch die Rituale, wozu unter anderem
die berühmten Abendessen der Gerichtsreferendare gehören.
Shakespeare wählte diese Kulisse für den ersten Akt des Rosenkrieges, der sich
im 15. Jahrhundert zwischen den mächtigen Familien von Lancaster und York abspielte
und England während dreißig Jahre zerriß, in seinem Drama Heinrich VI. Obwohl
der Dialog frei erfunden ist, wird man bei der Erinnerung daran unwillkürlich
ergriffen von der symbolischen Kraft dieses Ortes:
Plantagenet:
»Es pflückte, wer ein echter Edelmann
Und auf der Ehre seines Bluts besteht,
Wenn er vermeint, ich bringe Wahrheit vor,
Mit mir von diesem Strauch ´ne weiße Rose.«
Somerset:
»So pflückte, wer kein Feiger ist noch Schmeichler,
Und die Partei der Wahrheit halten darf,
Mit mir von diesem Dorn ´ne rote Rose.«
Lincoln´s Inns befinden sich nördlich der Royal Courts, die im 19. Jahrhundert
im damals so beliebten neogotischen Stil erbaut wurden. Unter der Leitung sogenannter
Bencher (Vorstandsmitglieder) treffen sich in diesen Einrichtungen wohlbestallte
Anwälte, Referendare und Studenten. Im 12. Jahrhundert erhielt diese ganze Gesellschaft
hier Kost und Logis, wovon die Bezeichnung Inn (Herberge) übriggeblieben ist.
Wie in jeder anständigen englischen Universität erschien es nämlich besonders
wichtig, Außenkontakte nach Möglichkeit zu vermeiden. Deshalb sah man auch nie
Angehörige anderer Berufsgruppen in den Inns. Es ist heute noch üblich, dass
die Rechtsanwälte nicht unmittelbar mit ihren Klienten sprechen, sondern vermittels
besonderer Solicitors, die die Funktion von Vertrauensmännern und bestimmte
notarielle Aufgaben wahrnehmen. Der Solicitor nimmt sich des Falles an, prüft
die Einzelheiten und verfaßt ein Resümee in Form eines Brief, welches Dokument
der Barrister (Rechtsanwalt) angeblich erst kurz vor der Gerichtsverhandlung
zur Kenntnis nimmt. Interessanterweise müssen die Anwälte, obgleich Freiberufler,
kraft des Taxi Rank Rule (Taxi-Warteschlange-Gesetz) reihum jeden Fall annehmen,
der ihnen von einem Solicitor angetragen wird - sofern sie dafür kompetent sind.
Die Richter, bei denen es sich immer um ehemalige Barrister handelt, sollen
nicht die Wahrheit herausfinden, sondern über Rechtsfragen entscheiden und den
Streit zwischen den Barristern zweier Parteien über formale Spitzfindigkeiten
schlichten. Der englische Richter ist eine Persönlichkeit. Umstritten wohl,
denn wo manche die Verkörperung des gesunden Menschenverstandes und der Vernunft
sehen wollen, erblicken andere nur die Karikatur eines vertrottelten Greises,
der sich in seinem Wortschwall selbst verheddert. Dazu muß man wissen, dass bis
ins 18. Jahrhundert das Recht in »normannischem Französisch« gesprochen wurde,
einem Idiom aus der Zeit der Eroberung, das allenfalls von den Barristern verstanden
wurde. Das Zivilrecht heißt beispielsweise Tort Law, was soviel heißt wie Schadensgesetz
(frz. tort = Unrecht), allerdings Schadensersatzgesetz bedeutet.
Diese besondere englische Rechtskonzeption hat den Spott vieler Schriftsteller
herausgefordert. Am berühmtesten ist hier wohl Charles Dickens: mit Bleak House
verfaßte er eine ätzende Anklage gegen die hohlen Intrigen des Court of Chancellery:
»Kein Nebel kann dicht genug, kein Schlamm dick genug sein, um dem Stoff zu
entsprechen, in dem im Angesicht von Himmel und Erde diese hohe Kanzleigerichtsbarkeit
tastet und watet, die schädlichste aller alten Sünderinnen.«
Als gute Briten sind die Gesetzeshüter selbst ganz wild auf verrückte Anekdoten,
wozu bizarre oder lächerliche Fälle immer wieder neue Anregungen boten. So wollten
beispielsweise zwei alte Damen die Memoiren eines seit dreissig Jahren toten
Schriftstellers veröffentlichen, die er ihnen im Laufe von spiritistischen Sitzungen
diktiert hatte. Die Erben des Verstorbenen erhoben sofort Anspruch auf die Urheberrechte.
Da man auf keine eindeutige Rechtssprechung in Bezug auf Geister zurückgreifen
konnte, fand ein spannender Kampf zwischen den Barristern statt. Der Richter
sprach schließlich den beiden Medien den urheberrechtlichen Lohn zu - zumindest
die irdischen.
Wenn auch die Melonenhüte fast verschwunden sind, so ist die Kleidung in der
City doch noch immer äußerst konservativ; das Schuhwerk zumal, das unbedingt
aus Brogues bestehen muß, nämlich Straßenschuhe aus dunklem, perforiertem Leder.
Der Anzug, meist dreiteilig, hat in der Regel Nadelstreifen. Im Inns of Court-Viertel
wird das Straßenbild von Grau und Schwarz bestimmt, wohingegen Geschäftsleute
Dunkelblau oder gar Hellgrau vorziehen. Übrigens trifft das Konservative nicht
nur auf die Kleidung zu. So verbot ein Finanzinstitut seinen Angestellten, in
zweitürigen Autos vorzufahren. Ein Coupé ist eben zu sportlich und deshalb nicht
konservativ genug ... Hinsichtlich ihrer Büros sind die Geschäftsleute der City
konservativ im buchstäblichen Sinn: hier ist es schon fast Ehrensache, Großvaters
alte, schlecht gewachste Möbel zu behalten, ebenso die abgetretenen Teppiche,
verstaubten Tische und die Türglocke aus Königin Viktorias Zeiten. Dazu gehören
auch das geregelte Durcheinander der Akten und die Cup of tea, die auf jeden
Fall von einer Tea lady in einer nach Möglichkeit gesprungenen Tasse serviert
werden sollte. Angeber gibt es in der City nicht und basta. Sollten Sie allerdings
von einem Londoner Bankdirektor oder einem Börsenmakler zum Essen eingeladen
werden, so wird er mit Ihnen sicherlich in seinem Rover (mit »Tabak«-Leder gepolstert)
aus London herausfahren, vielleicht sogar aus Großlondon, bis in eine der Vorstädte,
in denen weder das Zurschautragen von Reichtum noch das Leben mit modernen Einrichtungsgegenständen
verpönt sind.