Die beiden Großen
Die City
Paradoxerweise wirkt die City als ältester Stadtteil Londons am modernsten.
Die außergewöhnliche »Quadratmeile« verbindet und symbolisiert Großbritannien
insgesamt. Die City enthält das historische London, seine rechtlichen, wirtschaftlichen
und religiösen Facetten - alles eigentlich, bis auf das Königshaus, die Politik
und das Familienleben.
Offizielle Besuche in der City muß die englische Königin sich vom »Lord Mayor«
genehmigen lassen. Alsdann ist es ihr gestattet, in einer bestimmten Zeremonie
»den Schlagbaum des Tempelbezirks zu überschreiten«, so genannt nach einem der
alten Stadttore, wo ihr der Lord Mayor die Schlüssel zur City und seinen eigenen
Degen überreicht.
Bis ins 18. Jahrhundert hinein bestand London nur aus der City im Schutze der
alten Mauern mit den sieben Toren: Billingsgate, Aldgate, Moorgate, Bishopsgate,
Cripplegate, Newgate, Ludgate. Heutzutage bezeichnen diese klangvollen Namen
ebensoviele U-Bahn-Stationen. In der Westminster-City hingegen hatte die Monarchie
ihren Sitz, und beide Städte waren wohl getrennt, ebenso wie ihre Zuständigkeiten:
hie die Gesetze und da das Geschäft. Die Strand, eine lange Avenue mit bedeutenden
Palästen, verband sie miteinander.
Londons Ausdehnung erfuhr niemals Einschränkungen durch eine Zentralregierung.
Reiche Kaufleute und ihre Gilden lenkten die Geschicke der City. Das Parlament
in Westminster regierte ein Land, das bereits eine dezentralisierte Verwaltung
besaß.
Die beiden »Großen«
Es gibt kein mittelalterliches London. Zwei Katastrophen, die Große Pest und
der Große Brand von London, vernichteten Ende des 17. Jahrhunderts jede Spur
davon sowie einen Großteil der Einwohnerschaft. Zeitgenössische Berichte der
Schriftsteller Evelyn (ein weitgereister Kunst- und Naturkenner, Berater von
Karl II. und Jakob I) und Pepys (hoher Funktionär der Admiralität) führen uns
das damalige London vor Augen, wo der »Schwarze Tod« wütete. 1665 notierte Evelyn
in seinem Tagebuch: »Die Seuche verbreitet sich weiter um uns herum. Jede Woche
sterben etwa zehntausend Menschen. Ich habe selbst die düsteren und verlassenen
Gäßchen der City durchmessen, wo sich die Särge stapeln. Die Geschäfte sind
geschlossen und überall herrscht trauerndes Schweigen. Keiner weiß, wann seine
Stunde schlagen wird.«
In Erinnerung an die Große Pest paradiert seither der Bürgermeister der City
zu bestimmten Anlässen durch die Stadt, umgeben von seinen Sheriffs und Stellvertretern.
Er trägt einen Lavendelstrauß in der Hand zum Gedenken an jene Zeit, da duftende
Blumen als einziger Schutz gegen den Leichengestank dienten.
Das Große Feuer (the Great Fire) brach am Sonntag, dem 2. September 1666, gegen
zwei Uhr morgens aus und dauerte bis zum darauffolgenden Donnerstag nachmittag.
Die City innerhalb der Stadtmauern wurde dabei bis auf ein Inselchen im Nordosten
zerstört. Die Paulskirche brannte ebenso ab wie neunundachtzig Gemeindekirchen,
13.200 Häuser und unzählige Kunstschätze. Wie durch ein Wunder fielen jedoch
nur zwölf Menschen den Flammen zum Opfer. Das Feuer hatte zudem die segensreiche
Wirkung, dass es der Großen Pest Einhalt gebot, die 70.000 Tote innerhalb von
sieben Monaten gefordert hatte. Dennoch verursachte es helles Entsetzen, wie
der Londoner Chronist Samuel Pepys schilderte: »Mit zunehmender Dunkelheit wurde
eine grausige, Verderbnis bringende, blutrote Flamme sichtbar über den Kirchtürmen,
zwischen den Häusern und den Kirchen, soweit der Blick vom Hügel der City aus
reicht. Als wir weitergingen, bildete die Feuersbrunst einen riesigen Flammenbogen
zu beiden Seiten der Brücke, und ein zweiter Bogen spannte sich mindestens eine
Meile weit über den Hügel. Bei diesem Anblick brach ich in Schluchzen aus.«
Pepys´ kodiertes »Journal« konnte erst 1825 entziffert werden und besitzt gleichermaßen
Wert als intimes Dokument - die darin enthaltenen Ehekrach-Schilderungen sind
vorbildhaft für dieses Genre - und als unersetzliche Quelle für die Beschreibung
zeitgenössischer Begebenheiten, vor allem eben des Großen Feuers.
Ein heftiger Sturm trug dazu bei, dass das Feuer die großteils aus Holz gebaute
City innerhalb von vier Tagen zu Dreivierteln verzehrte. Der Wiederaufbau zog
sich über zwanzig Jahre hin. 1667 verabschiedete das Parlament einen Wiederaufbaugesetz,
den »Rebuilding Act«, und ernannte die verantwortlichen Baumeister, darunter den
berühmten Christopher Wren. Dieser machte sich umgehend ans Werk. Einundfünfzig
Gebäude errichtete er selbst, den Bau von sieben weiteren überließ er seinen Assistenten,
Hawksmoor und Vanbrugh. Auch entwarf er einen »Gesamtplan« der City: geradlinige
Alleen sollten auf geometrisch angelegte Plätze münden und die wichtigsten Denkmäler
hervorheben. Doch mißfiel den Geschäftsleuten eine derart rationelle städtebauliche
Konzeption, zumal sie ihre Häuser auf den alten Fundamenten wiederaufgebaut sehen
wollten. Die gewundene Straßenführung ist uns deshalb als einzige Spur des mittelalterlichen
London erhalten geblieben, das man sich besonders gut südöstlich von St. Paul
vorstellen kann, wenn man sich die Gebäude entlang der Ave Maria Lange, Amen Court
und Paternoster Row wegdenkt.
Der liebevoll als »Sir Chris« titulierte Christopher Wren erlangte jedenfalls
heldenhafte Größe in den Augen der Londoner. Im Jahr des Großen Brandes war
er vierunddreißig Jahre alt. Er hatte kein Architekturstudium absolviert, begeisterte
sich jedoch als Mathematiker und Oxforder Diplom-Astronom für die italienische
Renaissance und entlieh den kontinentalen Baustilen Elemente zum Neubau von
St. Paul und anderen Kirchen, denen er jedoch eine eigenwillige persönliche
Note verlieh. Sein Grab in der Paulskirche trägt die schlichte Inschrift: »Wenn
Sie sein Werk suchen, schauen Sie sich um.«
Die Behörden hatten eine einzige Auflage zum Wiederaufbau gemacht, nämlich
kein Holz zu verwenden. König Jakob I. bestimmte, dass fortan Ziegel genommen
werden sollten, da sie dauerhafter, feuerfest und außerdem schön und farbenprächtig
seien. Eine weitere Folge des Brandes war die Gründung privater Feuerwehren.
Die Häuser, deren Besitzer zum Förderkreis einer Feuerwehr gehörten, trugen
deren Siegel (an manchen Mauern sind sie noch heute sichtbar). Geizhälse riskierten,
dass ihre Behausungen abbrannten.
Auch Daniel Defoe war Zeuge der damaligen Brandkatastrophe gewesen und beschrieb
sie in einer Weise, die ebensogut auf den »Blitz« im Zweiten Weltkrieg zutreffen
könnte - tatsächlich werden in der Londoner Mythologie beide Ereignisse häufig
in Verbindung gebracht: »Billingsgate wurde an einem Samstag vom Feuer angegriffen,
die Kirchen fielen am Sonntag (...), die Denkmäler stürzen (...), die Gebäude
brechen zusammen (...); die von Entsetzen gepackten Londoner fliehen aufs Land.«