Das Kirchenjahr

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Das Kirchenjahr

Bei einem Griechenlandaufenthalt merkt der Besucher, dass die Religion hier
noch eine gewichtige Rolle im Alltag spielt. So bestimmt sie die lange Liste
der über das Jahr verteilten Kirchenfeste, die in Stadt und Land zahlreiche
Gläubige anziehen. An solchen Tagen platzen die Kirchen aus allen Nähten und
stimmen die Glocken ein feierliches Geläut an - von jeher artikulieren sie den
Tagesablauf in jedem Dorf (einige Athener Pfarreien trugen sich mit Modernisierungsgedanken
und wollten sich elektronische Glocken beschaffen; angesichts einer einmütigen
Ablehnungsfront mußten sie ihr Vorhaben aber fallenlassen).

An Theophania (Epiphanias), dem 6. Januar, findet die spektakuläre Zeremonie
der Wassersegnung statt: das vom Popen den Fluten (Meer, Fluß, See, Wasserbecken)
übergebene Kreuz wird von jungen Leuten wieder heraufgeholt. Die scheuen nicht
das kalte Wasser und tauchen bereitwillig hinab; für sie ist es eine Ehre, das
Kreuz dem Priester übergeben zu können und dessen Segen zu erhalten. Früher
einmal hatte der Finder des Kreuzes das Recht, es einen ganzen Tag lang zu behalten,
von Viertel zu Viertel damit zu spazieren und die Gaben der Bewohner einzusammeln
(was vielleicht Zahl und Unerschrockenheit der Taucher erklärte).

Der »reine Montag«, erster Tag der Fastenzeit, steht ganz im Zeichen des Reinigungsfestes.
Vom ersten Morgengrauen an unterziehen die Frauen ihr Haus einem gründlichen
Generalputz, achten sie auf Sauberkeit von Kleidung und Hausgemeinschaft, kehren
sie den Hof und waschen sogar die Blätter der Pflanzen ab. Danach bereiten oder
kaufen sie die lagana, eine Art ungesäuertes Brot, das zu tarama (gesalzenen
Fischeiern), Austern, Seeigeln und halva (einem Sesammilchkuchen, zuckersüß
aber köstlich) verspeist wird. Ungeachtet des strengen Ölverbots während der
Fastenperiode, ist der Genuß von ... Olivenöl erlaubt. Und während der Wein
in Strömen fließt, während Gesang und Tanz auf den Dorfplätzen ihren Anfang
nehmen (die Athener ihrerseits strömen auf die umliegenden Hügel - den Hymettos,
die Berge von Parnes und Pentelikon - oder suchen die Häuser ihrer Vettern auf
dem Land auf) basteln die Kinder Drachen, die zu Tausenden in den blauen Frühjahrshimmel
steigen.

Das Fest aller Feste jedoch ist Ostern: nach der beeindruckenden Kreuzigungszeremonie
an Gründonnerstag, der Kreuzabnahme an Karfreitag und einer wunderbaren Prozession
hinter dem Epitaphios (einer holzgeschnitzten Darstellung des Grabes Christi),
feiern die Menschen an Karsamstag um Mitternacht unter allgemeinem Jubel die
Auferstehung, auf einem Podest außerhalb der Kirche.

Mit dem heiligen Licht, vom Popen ausgegeben und von Kerze zu Kerze weitergereicht,
wird schließlich zu Hause die Öllampe vor den Ikonen entzündet. Am darauffolgenden
Ostermorgen werden Millionen von Lämmern geopfert und am Spieß gebraten, ganz
so wie es in der Antike - bei Festen zu Ehren der Gottheiten, die den Frühling
brachten - Brauch war.

Religiöse Feste dieser Art bieten Anlaß zu unvergeßlichen Umzügen. Die malerischsten
- und unverfälschtesten - Karfreitagsprozessionen erleben Makedonien und Thrakien,
die böotischen Dörfer und der Süden des Peloponnes. Kein Grund zur Besorgnis,
falls der Himmel einmal grau verhangen sein sollte: der griechische Frühling
zeigt sich häufig von seiner launischen Seite, aber seine Kapricen sind nie
von langer Dauer. Überdies wird Ihnen Ihr Prozessionsnachbar erklären, dass an
einem solchen Tag »auch der Himmel einige Tränen vergießen muß«.

Um dieselbe Zeit haben Sie in Megara (von Athen aus auf halbem Wege nach Korinth)
Gelegenheit, an den umfangreichen Feierlichkeiten am auf Ostern folgenden Dienstag
teilzunehmen. Männer und Frauen aus der Kleinstadt und dem Umland versammeln
sich auf dem Platz, tanzen, singen und beteiligen sich an athletischen Spielen,
jenen nicht unähnlich, mit denen die Menschen in der Antike den herannahenden
Frühling begrüßten.

Weitere lokale Veranstaltungen werden Sie mit einem Griechenland abseits der
ausgetretenen Touristenpfade bekannt machen. So veranstaltet die Stadt Patras
(an der Nordküste des Peloponnes) an den letzten beiden Sonntagen vor der Fastenzeit
einen Karneval, der Teilnehmer und Zuschauer aus allen Teilen des Landes anlockt;
und die historische Stadt Theben sorgt für den Fortbestand des uralten Festes
namens »Hochzeit des Bauern«, einer Art Satire, in deren Verlauf Sänger, Tänzer
und Komödianten die Verehelichung eines reichen Viehzüchters parodieren, der
sich von seiner zukünftigen Familie zum besten halten läßt.