Toleranz
Das Boot ist voll
Asyl und mehr
»Streng aber gerecht« lautet die Devise
Über den Bildschirm flimmern beziehungsreich hohe Deiche, während eine sonore Stimme die Fernsehzuschauer über die »strenge, aber gerechte« Asylpolitik der Niederlande informiert. »Nicht jeder Asylsuchende, der in die Niederlande kommt, wird auch anerkannt«. Der Spot ist Teil der PR-Kampagne »Die Fremdenpolitik kennt ihre Grenzen«, mit der das Justizministerium für die strengere Asylpolitik des Landes im Frühsommer 1996 warb. Zweck der Aktion: die Unkenntnis in der Bevölkerung über die Asylpolitik soll abgebaut, der Intoleranz gegenüber Fremden entgegengetreten werden.
»Viele Leute wissen über die Asylpolitik und die Zulassung von Flüchtlingen oft zu wenig Bescheid«, erklärt Ministeriumssprecherin Lisbeth Rensman den Sinn der Aktion. »Ein verbesserter Wissensstand kann zu einer fundierten Einstellung der Bürger gegenüber der Asylpolitik beitragen.« Mittlerweile hat Den Haag eine ganze Latte von Maßnahmen ergriffen: Beschleunigung des Asylverfahrens, keine Berufungsmöglichkeit für abgewiesene Bewerber, Arbeitsverbot während des Anerkennungsverfahrens sowie Verschärfung der Kontrollen u.a. mit zwölf Tag und Nacht operierenden sogenannten fliegenden Brigaden sowie 700 weiteren eigens dafür abgestellten Polizisten. Zwar rechnete die Regierung vor zwei Jahren nur mit 55.000 Personen, also prozentual viermal weniger als die BRD aufnimmt (die Bevölkerung in der BRD wuchs durch alle Arten von Einwanderern in den letzten zwei Jahren um 1,8 Mill. Einwohner auf nunmehr 81,6 Mill.), auch weniger als Dänemark oder Belgien, aber für die »toleranten« Niederländer sind es zu viele. Sozial- und Christdemokraten im Verein beschlossen abgewiesene Asylanten »gefangenzusetzen«, um ein Abtauchen in die Illegalität zu verhindern.
Tatsächlich widerlegten Umfragen im Auftrag des Ministeriums das Klischeebild der toleranten Niederlande eindrucksvoll. Die Hälfte der Befragten erklärte, das Königreich lasse zu viele Flüchtlinge zu, 70% glauben, dass die Asylpolitik laxer sei als in den Nachbarstaaten, 68% waren der Ansicht, Asylanten erwürben zu leicht den Flüchtlingsstatus, und 80% forderten, dass sich Fremde an die Niederlande anpassen oder verschwinden müssten. Deutlich wurde, dass das Interesse am Thema Ausländer groß ist, doch nur 18% der Befragten meinten, gut darüber unterrichtet zu sein.
Bereits 1995 verkündete das Innenministerium: »Weder ist Europa ein Einwanderungskontinent, noch sind die Niederlande ein Einwanderungsland«. Mit dieser Haltung beabsichtigt die Regierung zu verhindern, dass der Staat von gewalttätigen Protesten erfasst wird, wie sie Deutschland und Frankreich schon erlebt hatten. So errichtetete man an den Grenzen zu Belgien und Deutschland Auffanglager mit dem Zweck, die Einreise von Wirtschaftsflüchtlingen zu verhindern.
Wim Kok in der Zeit: »Unser Image als tolerantes Land ist ja nicht völlig falsch. Wir sind verhältnismäßig aufgeschlossen, geben vergleichsweise viel für Entwicklungshilfe. Also: aufgeschlossen und gleichzeitig ein wenig provinziell. Aber das heutige Problem riesiger Wanderungsbewegungen – mit Asylbewerbern und mit vielen Illegalen – schafft auch bei uns ein Gefühl der Angst bei vielen Leuten. Diese Angst ist etwas anderes als Intoleranz. Das sind Ängste um den Arbeitsplatz, eine bessere Wohnung. Selbst besser betuchte Bürger fürchten, sich einschränken zu müssen. Damit entsteht ein Klima, in dem Zuwanderer weniger akzeptiert oder geduldet werden – auch gegenüber Menschen, die eigentlich mit unserer Solidarität rechnen müssten. Dann heißt es schnell: das Boot ist voll, Grenzen dicht, schmeißt sie raus! Damit sind wir dem schon sehr nahe, was die Ursprünge des Nationalsozialismus ausmachte. Hier genau ist unsere Aufgabe: wir müssen endlich, fünfzig Jahre nach dem Krieg, die Lehren aus der Vergangenheit ziehen. ... Die Erkenntnis muss lauten: Ende der zwanziger und Anfang der dreißiger Jahre, in einer nicht vergleichbaren und doch ähnlichen Situation, war der Aufstieg der Nazis möglich zumindest als eine Konsequenz eines solchen Klimas wachsender Intoleranz. Und diese Saat der Intoleranz geht wieder auf: in Deutschland, in Frankreich, aber auch bei uns, in den Niederlanden. Da gibt es keinen Unterschied!«
Auch stellten sich viele Niederländer die Frage nach der Berechtigung ihrer Vorurteile. Zudem waren viele über die Reaktion in Deutschland auf die Clingendael Umfrage beunruhigt, denn den Niederländern, im Herzen immer Kaufleute, wurde klar, dass ein negatives Bild der Deutschen über die Niederländer ein Drama für Ausfuhr und Fremdenverkehr bedeuten könnte. Daraufhin trat der Kaufmannsgeist auf den Plan. Das durfte nicht sein und viele Instanzen bemühten sich, das Deutschlandbild in den zurechtzurücken. Der Durchbruch kam mit dem Besuch Helmut Kohls 1994 in Rotterdam und Den Haag, der sich mit Studenten und Jugendlichen über Politik und Deutschenhass, über Solingen und die Kartenaktion unterhielt. Erstmals fühlten sich die Niederländer vom großen deutschen Nachbarn ernst genommen. Somit wurde ein wichtiger Schritt zur Normalisierung des deutsch-niederländischen Verhältnisses getan.
Die größte Angst der Niederländer scheint darin zu liegen, von den Deutschen nicht für voll genommen zu werden.
Womit auch immer Deutsche das deutsch-hollandische Verhältnis belastet haben könnten – die Holländer haben sich bitter gerächt – mit Johannes Heester, Linda de Mol, Rudi Carrel und Heintje.