Quietschlebendige Götter

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Die Götter weigern sich zu sterben

Allen Verfolgungen ihrer alten polytheistischen Religion zum Trotz, und obwohl
der überlieferte Kult sowie alles, was an die Antike hätte erinnern können,
untersagt wurde die letzten Olympischen Spiele finden 393 statt erwehren sich
die Griechen über lange Zeit den Uniformisierungsbestrebungen der zentralistischen
Theokratie in Konstantinopel: unbeschadet aller Unterdrückung huldigt ein Großteil
der Bevölkerung auch weiterhin den Göttern des Olymp, besucht die außer Dienst
gestellten Tempel, wirft sich vor Zeus und Athenestatuen nieder und verbrennt
Weihrauch zu Füßen Aphrodites und Heras. Läßt die Obrigkeit einen Tempel einreißen,
um eine Kirche zu errichten, so klauben die Menschen pietätvoll Bruchstücke
der Säulen zusammen und fügen sie in die Mauern des neuen Bauwerks ein. Andere
wiederum dingen Maurer, damit diese eine Marmortafel in den Altar des heiligen
Christus einlassen mit dem Bildnis einer olympischen Gottheit ...

Die Zähigkeit der Kirche

Zehn Jahrhunderte später, im Mai 1453, belagern die unübersehbaren türkischen
Truppen unter Mechmet II. Konstantinopel. Während in der Hagia Sophia eine Messe
nach der anderen für das Heil der byzantinischen Kapitale gelesen wird in Anwesenheit
des Kaisers Konstantin Palaiologos rufen im gegnerischen Lager Muezzins die
Krieger vor dem letzten Angriff zum Gebet. Derwische, »Narren des Propheten«,
stacheln die Soldaten an, nicht einen »Ungläubigen« mit dem Leben davonkommen
zu lassen, und versprechen allen das Paradies, die ihr Blut für den Islam vergießen.

Zur gleichen Zeit kniet in einem Dorf unweit von Sparta, am entgegengesetzten
Ende Griechenlands, ein bedeutender Philosoph, Plethon, vor einer ApollonStatue
nieder und fleht die Gottheit an, sie möge die entlegene Hauptstadt retten.
Monatelang hatte er unablässig Briefe an die Behörden Konstantinopels und an
den Kaiser selbst gesandt, in denen er um eine Rückkehr zur alten Religion ersucht.
Nur diese sei, nach seinem Befinden, in der Lage, die Solidarität des Hellenismus
vor der türkischen Bedrohung zu gewährleisten.

Dennoch hat die griechische Kirche während der nicht enden wollenden Besetzung
des Landes durch die Türken viel zur Aufrechterhaltung des Nationalbewußtseins
beigetragen. Sowohl von den Kirchenvätern die Heiligen Johannes Chrysostomos,
Gregor Theologos und Basilius d.Gr. waren besessen von der Kultur des klassischen
Griechenland als auch durch die allmähliche Umwandlung des Ritus, der einige
Elemente der alten Religion übernahm, schon weitgehend hellenisiert, sorgte
die Kirche für den spirituellen Zusammenhalt der Griechen und wahrte einen Teil
der Traditionen, die andernfalls für immer verlorengegangen wären. Vier Jahrhunderte
lang brachten Papades (Popen) den Kindern der Rayas (Sklaven) bei, ihre Muttersprache
zu lesen und zu schreiben, lehrten sie die Geschichte ihres Landes, ließen sie
diese beim Licht einer Öllampe die schriftlichen Zeugnisse ihrer Vorfahren studieren
und Seiten aus der Ilias oder Odyssee vortragen in Höhlen und Katakomben, verborgen
in abgelegenen Bergkapellen. Das war die Kryfo scolio (oder Geheimschule).

In diesen düsteren »Untergrundklassen« bewies Griechenland seine NichtUnterwerfung
unter die Türken, pflegte es sein kulturelle Erbe und bereitete es die Revolution
gegen die Osmanen vor, die im Frühjahr 1821 endlich losbrechen sollte.