Der Todeskampf der Feudalherrschaft

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Der Todeskampf der Feudalherrschaft

Der Rückzug der »Großen Armee« besiegelt das Scheitern der bürgerlichen Revolution:
Ferdinand VII. versteht sich als Erneuerer des ewigen Spaniens. Die 1812 in
Cádiz durchgesetzte liberale Verfassung wird verworfen und die Inquisition wieder
eingesetzt. Indem er sich am Mythos einer altüberlieferten Gesellschaft festklammert,
macht der König einen Absolutismus geltend, von dem die französischen Ultras
nicht einmal zu träumen wagen. Das Sterben des Ancien Régime zieht sich über
viele Jahre hin. Die wütenden Attacken, Staatsstreiche oder pronunciamientos
der liberalen Militärs, scheitern und erschüttern es nur für eine gewisse Zeit:
das kurzlebige trienio liberal von 1820 bis 1823 wird vom französischen Feldzug
der »Hunderttausend Söhne des Heiligen Ludwigs«, in Anspielung auf den siebten
Kreuzzug König Ludwigs im 13. Jahrhundert, beseitigt.

Die Regierungszeit Ferdinands VII. erlebt dennoch einen bedeutenden Einschnitt,
und zwar durch die Abspaltung des amerikanischen Reichs von Spanien. Der Zusammenbruch
der Monarchie und dann der Krieg auf der Pyrenäenhalbinsel hatten zur Folge,
dass Amerika sich selbst ausgeliefert war. Kreolen spanischer Herkunft hatten
sich in Parteien zusammengefunden, die es darauf absahen, die von Madrid eingesetzte
Verwaltung zu vertreiben. Die Befreiung fand in Argentinien - seit 1814 unabhängig
- schon sehr früh statt. Anderswo konnten die libertadores nur nach heldenhaften
und grausamen Kriegen triumphieren: im nur für kurze Zeit bestehenden Groß-Kolumbien
Bólivars, in Mexiko und schließlich in Peru. Die teuer erkaufte Freiheit hatte
mehrere Konsequenzen: den wirtschaftlichen Zusammenbruch, die politische Zersplitterung
in Staaten, für die Diktatur der gestiefelten caudillos nach Maß zugeschnitten,
sowie das gewaltige Elend, in dem die kreolische Bourgeoisie die Massen der
Indianer- und Mestizenbauern versinken läßt. Im Jahre 1824 ist der Bruch zwischen
amerikanischem Kontinent und dem Mutterland Spanien vollzogen. Nur die kulturellen
Spuren bleiben trotz aller Ressentiments unauslöschlich. Später, im Jahre 1898,
verliert Spanien nach und nach Kuba, Puerto Rico und die Philippinen, was dem
neuen amerikanischen Imperialismus zugute kommt. Zu diesem Zeitpunkt wird Spanien
bewußt, allerdings zu spät, dass es nicht länger zu den Weltmächten zählt.

Nach dem Tode Ferdinands gibt die Dynastiekrise, bei der sich seine Tochter
Isabella und sein Bruder Karl gegenüberstehen, das Zeichen für den ersten Karlistenkrieg.
Es ist ein blutiger Kampf, aus Partisanenkriegen bestehend, die später die Reisenden
der romantischen Epoche beeindrucken. Die cristinos - die Anhänger Isabellas
und ihrer Mutter Maria-Christine - gewinnen schließlich dank der Hilfe liberaler
Antikleriker und der regulären Armee gegen die Karlisten, die sich in ihrem
Traum von einem klerikalen, ländlichen Spanien, das sich auf die fueros stützt,
verfangen hatten, die Vorrechte der nördlichen Provinzen. Ihr Sieg besiegelt
die Liquidierung des Ancien Régime, welche sich hauptsächlich in der über lange
Jahre sich hinziehenden Versteigerung kirchlicher Ländereien äußert. Diese desamortización,
später durch den Verkauf städtischer Güter abgerundet, schließt mit zahlreichen
Übertragungen von Eigentum ab: ein Fünftel, vielleicht sogar ein Viertel der
Ländereien wechselt die Besitzer. Nun haben die Bauern aber kaum etwas davon,
da die angebotenen Parzellen viel zu umfangreich sind und Barzahlung nur für
die Reichsten im Dorf in Frage kommt. Was eine Bodenreform hätte werden können,
wird zur Geburtshilfe eines neuen Bürgertums, das in der Folge mit den Adligen,
die noch intakte Besitztümer besitzen, gemeinsame Sache macht. Millionen von
Bauern (Tagelöhner, Kleinbauern und -pächter) sind in regelmäßigen Abständen
Hungersnöten ausgesetzt und versinken in einer »Infra-Geschichte« (der Begriff
stammt von Unamuno), völlig abgeschnitten vom nationalen politischen Leben.

Das parlamentarische Staatswesen, mehr schlecht als recht vom Ausland kopiert,
erweckt die Vorstellung eines Dekors aus Pappmaché, wo der Gehrock der Strafverteidiger
mit den überladenen Uniformen abwechselt. Das Ansehen der Monarchie, schon unter
Ferdinand VII. ins Wanken geraten, verkommt mit den burlesken Schicksalen seiner
Witwe und seiner Tochter: die eine heimlich mit einem Nichtadligen wiederverheiratet
und bemüht, sieben Schwangerschaften hintereinander zu verbergen; die andere,
Königin Isabella II., gegen ihren Willen mit ihrem Vetter verheiratet, einem
gottesfürchtigen Homosexuellen, der unfähig ist, ihrer Sinnlichkeit Genüge zu
tun, die sie dann in den Armen forscher Offiziere befriedigt - wobei sie dann
nur noch, wenn sie die Schlafkammer verläßt, auf dem Betstuhl Reue zeigen muß
... Die politischen Streiche dieser Damen lassen sie darüber alle Achtbarkeit
verlieren. Im Grunde genommen sind die Generäle die Rädelsführer, und zwar durch
ihre pronunciamientos, als Vorsichtsmaßnahme betrachtet, mal gegen die vereinzelt
auftretende Bedrohung durch karlistische Partisanen, mal gegen die ersten Rebellionen
des damals schon in Städten wie Barcelona existierenden Proletariats. Draufgängerische
und demagogische Generäle lösen einander ab. Aber der Staat bietet nur einen
beschränkten Handlungsspielraum, entsprechend eines ständig im Minus liegenden
Haushalts. Die wirkliche Macht liegt bei ortsansässigen Cliquen von Honoratioren,
welche die Herrschaft über die Wirtschaft innehaben (d.h. über die Ländereien
und Arbeitsplätze), und so die Gemeinden und das politische Leben in den Provinzen
kontrollieren. Diese Lokalmachthaber erhalten später den Namen los caciques.

Dieses Kaziken- oder Bonzentum kontrolliert zwar die ländlichen Gebiete, überläßt
aber Eisenbahnbau und Bergbau dem ausländischen Kapital. Die spanischen Bankiers
mit ihren im übrigen beschränkten Mitteln widmen sich Städtebauprojekten, die
kurzfristig gewinnbringender sind.

Der Bankrott des Systems wird 1868 deutlich sichtbar beim Zusammenfall einer
Landwirtschaftskrise, in deren Folge die Brotpreise schwindelerregende Höhen
annehmen, mit einer Finanz- und Industriekrise, die wiederum eine Welle der
Arbeitslosigkeit mit sich führt. Die Erbitterung der Bevölkerung in den Städten
verwandelt den klassischen pronunciamiento von General Prim in eine Revolution.
In den folgenden sechs Jahren scheitern alle Versuche, von der kurzlebigen konstitutionellen
Monarchie unter Amadeus von Savoyen bis hin zur ersten Republik, ohnmächtig
angesichts der Aufstände in den Provinzen Murcia, Valencia und Andalusien. Die
Militärs übernehmen die Wiederherstellung der Monarchie, verkörpert durch Alfons
XII., Sohn von Isabella II.