Das Zeitalter der Gegensätze

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Das Zeitalter der Gegensätze

Die Restauration von 1875 scheint, wie in Frankreich die dritte Republik, eine
Phase der Stabilität einzuleiten. In den Städten entstehen neue Stadtteile,
in denen sich die stattlichen Häuser des Bürgertums aneinanderreihen. Der Staat
versucht auch, sich achtbar zu geben: eine Verfassung nach englischem Muster
soll den Parlamentarismus einführen. Eine ganze Generation lang scheint die
Maschinerie reibungslos zu funktionieren: die konservative Partei, welche die
Kirche aus der Sackgasse der Karlisten herausholt, löst sich brav mit der liberalen
Partei ab; die Redekunst treibt ihre Blüten. Die Übernahme des allgemeinen Wahlrechts
im Jahre 1890 könnte vermuten lassen, dass sich die Rechtslage endlich den Gegebenheiten
des Landes anpaßt. Aber im Grunde genommen sind die Wahlen nichts als ein Marionettentheater,
woebei die Kaziken schamlos die Schnüre manipulieren. Die Tiefenstrukturen bleiben
jedenfalls unverändert: ein geschwätziges Spanien läßt sich von der Geschichte
überholen.

Dieses Land, das seine Verwandlung nicht erfolgreich hinter sich zu bringen
vermag, lenkt die leidenschaftliche Aufmerksamkeit seiner Künstler auf sich.
Selbst vor der 98er Generation, einer Gruppe von Schriftstellern auf der Suche
nach dem Niedergang des Landes und nach einem neuen nationalem Selbstverständnis,
entnimmt der einflußreiche Romanschriftsteller Pérez Galdós seinem Land und
seinem Jahrhundert die Elemente für eine menschliche Komödie, die eines Balzacs
oder eines Dickens würdig ist. Seine siebenundsiebzig Romane lassen nach und
nach epische Ausdruckskraft, einen scharfen Beobachtungssinn und eine herbe
Kritik an den Sitten und sozialen Beziehungen erkennen, vor denen die Zartfühlenden
zu Unrecht die Nase rümpften. In El Regente konfrontiert Leopoldo Alas alias
Clarín die Leidenschaften einer spanischen Madame Bovary mit den erdrückenden
Tabus des Lebens in der Provinz. Angesichts des demütigenden Zusammenbruchs
feiert die 98er Generation die eindrucksvollste Geburtsstunde von Talenten seit
dem Goldenen Zeitalter: der Romancier Pío Baroja knüpft an die pikareske Tradition
an, den Beitrag des Naturalismus mit einbeziehend; der geniale Bohemien Valle-Inclán
setzt die veraltete Ausdrucksweise der galicischen Folklore in einer unerbittlichen
Sicht der zeitgenössischen Gesellschaft fort, wo sich seine Vorliebe fürs Groteske
sowie seine köstliche Grausamkeit großartig machen; und für alle fungiert Miguel
de Unamuno, der Don Quichotte unter den Schriftstellern, als Meister: im Rektorat
der Universität von Salamanca wie auch im Essai, im Roman und im Journalismus,
unermüdlicher Ödipus im Hinblick auf die spanische Sphinx.

Währenddessen verschärfen sich die Gegensätze in Spanien. In Andalusien lebt
auf dem Land der langwierige Aufstand der besitzlosen Tagelöhner wieder auf.
Diese »primitiven« Rebellen, zum Glauben an die Anarchie gelangt, machen eine
Entwicklung von Gleichgültigkeit bis hin zu törichter Hoffnung mit. Ihre Unruhen
und Generalstreiks werden mit blutiger Unterdrückung erwidert, die dem neuen
»Glauben« seine Märtyrer liefert. Die Industriegebiete Asturien, Baskenland
und vor allem Katalonien lehnen sich ihrerseits gegen die Unfähigkeit Madrids
auf. Ihr aufstrebendes Bürgertum fühlt sich von der Macht ausgeschlossen, die
von der landbesitzenden Oligarchie mit Beschlag belegt wird. In Katalonien stützen
sich seine Forderungen auf eine dynamische Renaissance von Sprache und Kultur.
Sie werden von der - Geschäftswelt und Mittelklassen vereinenden - Lliga zum
Ausdruck gebracht, deren Wahlsiege in Madrid als eine für die nationale Einheit
unerträgliche Herausforderung angesehen werden. Bevor die Regierung einen Kompromiß
mit ihr eingeht, begünstigt sie lieber in Barcelona die zweifelhaften Umtriebe
der Radikalen, angeführt vom Demagogen Lerroux, mit seinen leidenschaftlichen
Reden und seinen »jungen Barbaren«, die antiklerikal eingestellt sind ... aber
den Vorzug haben, dass sie sich den Autonomisten widersetzen. Zur gleichen Zeit
bestätigte sich der Aufstieg eines beachtlich umfangreichen, kampflustigen Proletariats.
In Katalonien nimmt die Arbeiterbewegung Gestalt an durch die anarchosyndikalistische
CNT, während das Proletariat Asturiens, des Baskenlands und Madrids sich eher
an der UGT orientiert, die der sozialistischen Partei PSOE nahesteht. Zwei Gewerkschaftsbewegungen,
häufiger Rivalen als Verbündete, zwei Ideologien, zwei Umsetzungen in die Praxis.

Nun beschleunigt aber der Erste Weltkrieg, in dem Spanien sich neutral verhält,
plötzlich das Industrialisierungstempo: die am Krieg beteiligten Nationen kaufen
im Land Nahrungsmittel, Rohstoffe und Waffen. Die Arbeiterklasse verspürt ihre
Kraft bewußter, bis im Jahre 1917 eine Inflationswelle ihre Kaufkraft beschneidet
und deshalb eine noch nie dagewesene soziale Bewegung das Land in Aufruhr versetzt
- dem Aufruf der beiden Gewerkschaftszentralen folgend, die sich in Richtung
einer einheitlichen Handlungsweise bewegen, und mit der Unterstützung der PSOE.
Der Generalstreik wird zur Kraftprobe, aber die Armee läßt sich nicht lange
bitten, wenn es um die Ausführung der Bestrafung geht. Mit den liberalen Militärs
des 19. Jhs ist es nun vorbei: die Armee, vom nationalen Einheitsgedanken durchdrungen,
schließt sich der Kirche an, um mit Entsetzen die soziale Explosion abzulehnen.
Ihr leicht errungener Sieg ist ein Ausgleich für die vor 1898 in Kuba und später
in Marokko eingesteckten Niederlagen.

Die Krise im August 1917 eröffnet eine sechsjährige Periode, während der sich
der Klassenkampf verschärft. Durch die Russische Revolution in der Arbeiterklasse
geweckte Hoffnungen entsprechen dem Entsetzen der Bourgeoisie während der nachfolgenden
»drei bolschewistischen Jahre«. In Andalusien wie auch in Katalonien setzt die
Verkettung der Gewalt ein, an der sowohl die pistoleros teilhaben, von Bombenattentaten
begeisterte Anarchisten, als auch die vom Unternehmertum rekrutierten Helfershelfer,
an deren Machenschaften sich die Polizei in Barcelona beteiligt. Mit der Zustimmung
von König Alfons XIII. im Rükken, neigt der Staat zu raschen Lösungen: die Unterzeichnung
des ley de fugas - des Fluchtgesetzes - ermöglicht es den Ordnungskräften unter
dem Vorwand der Flucht, die aufgegriffenen militanten Arbeiter niederzuschlagen.
Die Haltung des Königs angesichts der sozialen Krise entfremdet ihn den unteren
Klassen und verstärkt auf diese Weise die republikanische Opposition. Seine
eigene Person steht zur Debatte, als sich 1923 bestätigt, dass er dem Militärkommando
in Marokko hinter dem Rücken seiner Regierung die Befehle erteilt hat, die zur
Katastrophe von Annual geführt haben.

Da geschieht es, dass der General Primo de Rivera für ihn die Kastanien aus
dem Feuer holt, indem er sich für die Führung eines Militärdirektoriums zur
Verfügung stellt. Der Diktatur, letzte Chance der Monarchie, wird es gelingen,
die Armee aus dem Wespennest Marokko herauszuholen. Aus der internationalen
Konjunktur Nutzen ziehend, startet sie eine Politik der Großprojekte, wie Straßenbau
und Ausbau des Ebrobeckens. Ihre Sozi-alpolitik dagegen ist kaum schlüssig:
die freien »Gewerkschaften« (d.h. die offiziellen) zerstören nicht den Einfluß
des verbotenen Anarchosyndikalismus, während die sozialistische UGT stärker
Fuß faßt. Prestigeausstellungen in Barcelona und Sevilla können den Mißkredit
der Staatsgewalt nicht ausgleichen. Diese wird von den Intellektuellen geringschätzig
behandelt. Daraufhin setzt sie letztere Schikanen aus, man denke nur an das
Exil Unamunos auf den Kanaren.

Durch den Rücktritt des Diktators spitzt sich erneut die Frage nach der Regierungsform
zu. Die Oppositionsparteien besiegeln ihre Allianz durch die Annahme eines gemeinsamen
Wahlprogramms im Pakt von San Sebastián. Zwei Jahre später genügt eine zweitrangige
Wahl, um die Monarchie zu beseitigen: die Gemeindewahlen von April 1931, noch
vor der gefürchteten Wahl eines Parlaments, erleben den Triumph der Allianz
von Republikanern und Sozialisten in den großen Städten. Alfons XIII., der verführerische
König mit dem abgestandenen Charme, setzt sich nach Paris ab, wo ihn Marschall
Pétain aufnimmt. Die Republik hat sich ganz ohne Blutvergießen durchgesetzt.