Einleitung

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Whitechapel und Spitalfields

Trotz der kulturell und ethnisch vielfältigen Einwanderungswellen hat das Londoner
East End seinen eigentümlichen Charakter bewahrt. Die ehemaligen Dörfer wurden
in dem neuen Borough (Bezirk mit besonderem Verwaltungsstatus) Tower Hamlets
zusammengefaßt, der noch immer zu den ärmsten Vierteln der Hauptstadt zählt.
In London führt die unmittelbare Nachbarschaft von Überfluß und Not häufig zu
Unruhen, die nichts mehr mit Parteipolitik gemein haben. Die Kluft zwischen
Reich und Arm und auch zwischen Weiß und Schwarz - mit Ausnahmen - wird immer
tiefer. In den neuen Stadtteilen in den Docklands gehört es zum Freizeitvergnügen
der jungen Arbeitslosen, einen »Yuppie auseinanderzunehmen« und die Symbole
des arroganten Wohlstandes anzugreifen, also etwa die Kühlerfiguren auf den
Luxuslimousinen der jungen Angestellten aus der City abzureißen oder ihre angeberischen
Wine Bars zu verwüsten, die den Pubs, weil zu ordinär, vorgezogen werden. In
diesen Vierteln prallen die Gegensätze brutal aufeinander, wenn sich die immer
zahlreicher in die Stadtteile des einfachen Volks strömenden Neureichen und
die wegen der Wirtschaftsprobleme im Süden Englands immer ärmer werdenden Armen
begegnen. Die daraus resultierende gewalttätige Spannung erinnert durchaus an
die Zustände des viktorianischen Zeitalters.

Während dieser mancherorts als so prunkvoll empfundenen Herrschaft hatte das
Elend in London erschreckende Ausmaße angenommen. Zeugnis davon legen die Werke
von Dickens ab sowie die Berichte zahlreicher fremder (Flora Tristan, Gustave
Doré usw.) oder englischer Reisender sowie das Engagement einer ganzen Heerschar
mildtätiger Damen für die verelendeten Eastenders. Männer, Frauen und Kinder
mußten sich auf der Straße als Gaukler oder fliegende Händler durchschlagen,
boten Streichhölzer, Liebesäpfel, Papierdrachen, Blumen und Obst feil. Wen wundert´s,
dass sich die costermongers (Händler) und die Polizei nicht wohlgesonnen waren.
Aus dieser Zeit stammen zwei eigentümliche Institutionen: die Pearly Kings und
der Rhyming Slang. Letzterer bezeichnet den verzwicktesten - und für die Ordnungshüter
völlig unverständlichen - Teil der Cockney-Sprache. Es geht darum, Worte durch
zusammengesetzte Ausdrücke oder Eigennamen zu ersetzen, die sich auf sie reimen,
also etwa Pleasure and Pain (Lust und Leid) statt Rain (Regen), Weasel and Stoat
(Wiesel und Frettchen) statt Coat (Mantel), Dustbin Lids (Mülleimer-Deckel)
oder God Forbids (Gott Behüte) statt Kids (Kinder), Lilian Gish statt Fish (Fisch).
Die Säufer betitelten ihre Bottle (Flasche) großartig als Aristotle (Aristoteles).

Mit den Pearly Kings hat es folgende Bewandtnis: da bestimmten fliegenden Händlern
die Aufgabe zugewachsen war, zwischen ihren Kollegen und der Polizei zu schlichten,
trugen sie der besseren Erkennbarkeit halber und nach Art der damaligen Mode
zwei oder drei Reihen Perlmutt-Knöpfe. So entstand die Herrschaft der Pearly
Kings, die ihrer Kleidung nach und nach so viele Knöpfe anfügten, dass sie zuletzt
davon übersät war. Mit zunehmender Besserung des Verhältnisses zwischen Eingeborenen
und Obrigkeit machten sich die Pearlies als Spendensammler für wohltätige Zwecke
nützlich. Bis heute bewahren sie ihre Bräuche und die Organisation in Sippen,
mit Königinnen und Königen, Prinzen und Prinzessinnen, in ironischer Nachäffung
der britischen Monarchie. So wohnt in jedem Borough eine Pearly-Familie. Zu
Oktoberbeginn treffen sich die Sippen alle vor St. Martin-in-the-Fields auf
Trafalgar Square, wobei es garantiert lustig, bunt-extravagant und humorvoll
nach Cockney-Manier zugeht.

Ungeachtet vieler Grabreden, die schon auf sie gehalten wurden, hat die Cockney-Tradition
bisher alle Umbrüche in London überlebt. Den Beweis dafür hat die Fernsehserie
Eastenders geliefert, die eine aktuelle Bestandsaufnahme des Lebens und der
sozialen Spannungen in einem armen Stadtteil im East End liefert.