Einleitung
Chelsea und Kensington
»London berührt mich sehr wegen der Spaziergänge entlang der Themse nach Little
Chelsea. Dort gab es kleine, mit Rosen geschmückte Häuser, die für mich das
höchste Entzücken bedeuteten.« Diese Worte von Stendhal beschreiben recht eindrucksvoll
den Charme von Chelsea, einem jener dörflichen Londoner, die weitgehend intakt
geblieben sind, jedoch ausnehmend schick und folglich überaus teuer wurden.
Verlockend an diesem Stadtteil sind vor allem seine Häuser und seine Plätze
im georgianischen Stil, wobei diese Bezeichnung nur einer Konvention folgt,
denn tatsächlich fand die Bebauung nach und nach unter der Regentschaft von
Königin Anne, den vier Königen Georg, König Wilhelm IV. und Königin Viktoria
statt.
Seit der klassischen Epoche bis ins 20. Jahrhundert hat England stetig sein
Handelsimperium ausgedehnt und seinen Reichtum vermehrt. Die wohlhabenden Familien
waren an dieser Entwicklung beteiligt und zogen deshalb von ihren traditionellen
Landsitzen nach London und besonders nach Mayfair, wo sie sich in geräumigen
Residenzen einrichteten, die ihrem Selbstverständnis entsprachen. Bald ahmten
die Kleinbürger diesen Stil nach, etwas weniger prunkvoll und mit billigeren
Baustoffen. Auf diese Weise entstanden die Vororte, die vornehmen Wohngegenden
Londons. Deshalb auch findet man hier das Londoner Ideal des sogenannten georgianischen
Hauses: eher hoch als breit besteht es aus drei bis vier Stockwerken über einem
Zwischengeschoß, mit symmetrischen Fenstern und einer säulenverzierten Außentreppe.
Es wird mit Londoner Ziegelsteinen errichtet und seine Fassade mit Stuck verziert.
Wer Chelsea genießen will, sollte abseits der lärmenden King´s Road, der Hauptstraße
im »Dorf«, über Oakley Street, Margaretta Terrace, Phene Street, Upper Cheyne
Row, Old Church Street und unbedingt auch Paulton Square (ein Paradebeispiel
des georgianischen Stils) marschieren und dann einfach durch die Mews schlendern,
an den alten Häusern vorbei, die gleichsam ins Grün eines Vorplatzes oder eines
blühenden Gärtchens eingelassen sind, ohne sich weiter um die Rolls-Royce und
Daimler zu kümmern, die ostentativ die Gehwege zuparken. Die würdevollen Außentreppen
streben zu den Haupteingängen, während kleine vergitterte Treppchen zum Souterrain
hinabführen, dessen Fenster gerade noch auf Erdbodenhöhe sind. Diese besondere
Anordnung rührt daher, dass die Abwässer auch in London früher durch offene Kanäle
in den Straßen geleitet wurden. Deshalb wurde die erste Wohnetage über der Straße
gebaut und über einen steinernen Steg mit ihr verbunden. Das Untergeschoß war
den Küchenräumen und Hausangestellten vorbehalten und hatte außerdem ein Kellerloch
für die Lieferanten. Der Kohlenhändler, schwarz von Kopf bis Fuß, schüttete
dort den Inhalt seiner großen Jutesäcke hinein. Die Gitter über den Abwasserkanälen,
die verhindern sollten, dass Passanten versehentlich hineinfielen, dienten der
Propaganda von Generationen militanter Radikaler, Suffragetten zumal, die sich
dort aus Protest feierlich anketteten. Heute sind die Erdgeschosse zu geräumigen
Eßküchen umgebaut, wie die Mittelklasse sie liebt, und der Abstand zwischen
Straße und Basement wird zum Abstellen von Fahrrädern und Gartenwerkzeug genutzt.
Das Basement spielt übrigens auch eine zentrale Rolle in der Mythologie von
Londons Kindern. So lehrt uns der berühmte Verfasser von Winnie the Pooh, Alan
A. Milne, dass Bären jederzeit aus ihnen hervorbrechen können, um die Kinder
aufzufressen, die auf die Rillen zwischen den langen Gehsteigplatten treten:
Whenever I walk in a London street
I´m never so careful to watch my feet
I keep in the squares
And the masses of bears
Who wait at the corner all ready to eat
The sillies who tread on the lines in the street.Wenn ich durch Londons Straßen gehe,
Schau ich auf meine Füße.
Wehe
Den Dummen, die auf Rillen treten,
Die Bären werden es gewahr
Und fressen sie mit Haut und Haar.
Natürlich gehört zu dem Spiel nicht nur, die Rillen zu überspringen, sondern
auch, die Spielkameraden möglichst draufzuschubsen.
Das Hauptgeschoß eines georgianischen Hauses ist nicht selten vier Meter hoch
oder mehr. Das liegt daran, dass früher die Beleuchtung aus Talglichtern bestand,
deren schwarzer Qualm die Hausbewohner um so weniger beeinträchtigte, je höher
die Zimmerdecke war. Trotzdem wurde manche Londoner Mahlzeit durch den Smog
oder Pea-Souper (Nebel so dick wie Erbsenbrei) verdorben, denn bis in die fünfziger
Jahre - solange noch mit Kohle geheizt wurde - saß man oft in einem gelblichen
Dunst.
Die Stunde des Milchmanns
Der Milkman kommt jeden Morgen, wie immer. Da er denselben Stadtteil seit Jahren
beliefert, gehört er schon fast zur Familie. Die Frauen ruft er Love und die
Männer Sir, wie es sich für einen Cockney gehört. Von seinem elektrischen Fahrzeug
aus - schließlich soll niemand geweckt werden - stellt er lautlos die Milchflaschen
auf den Schwellen ab. Die Bestellungen entnimmt er Zetteln in den Flaschenhälsen.
Er läutet nur, wenn er die Hauptzutaten für ein gutes englisches Breakfast bringt,
nämlich Sahne, Brot, Kekse, Eier, Würstchen, Schinken und Baked Beans (gebackene
Bohnen).
Auch die Zeitungen werden frühmorgens ausgetragen, oft von Schülern. Kein Mensch
sorgt sich darum, dass ihm Milch oder Zeitung gestohlen werden könnte: so etwas
kommt einfach nicht vor, schließlich gibt es einen bürgerlichen Anstand und
das Breakfast ist jedem heilig. Wer zu früher Stunde die Straßen durchstreift,
sichtet bestimmt einen Morgenmantel in einer halbgeöffneten Haustür und eine
Hand, die hastig etwas zusammenrafft, worauf sich die Tür ebenso diskret wieder
schließt ...