Auf dem anderen Ufer

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Southwark

Wie wäre es mit einem Ausflug über den Fluß? Auf diese Frage werden die meisten
Londoner (natürlich nur jene, die nicht südlich der Themse wohnen) erstaunt
und leicht angewidert reagieren, so als hätten Sie Ihnen gerade eine Tasse lauwarmen
Tees angetragen. Und trotzdem gibt es jenseits der Themse einen Süden.

Zu der Zeit, als an den Nordufern der Themse nicht viel mehr als die City existierte,
die innerhalb ihrer Mauern kein Schauspiel duldete, war Southwark, unmittelbar
jenseits von London Bridge, der Ort für Theatervorstellungen und Volksbelustigungen.
Im 16. und 17. Jahrhundert besuchten die Londoner die Paris Gardens, die Theaterstücke
von Shakespeare und seiner Zeitgenossen im Globe und im Swan sowie die Bärenkämpfe
in den Arenen, oder sie überließen sich fröhlichen Ausschweifungen in den berühmten
Stew Banks, die, als Schwitzbäder getarnt, namentlich als Bordelle dienten -
trotz ihrer Nähe zur Kathedrale von Southwark, einem Meisterwerk der englischen
Gotik, wie auch Westminster.

Auf dem anderen Ufer

Von Borough High Street nach Southwark, eine bedeutende Straßenverbindung nach
Südengland schon zur Römerzeit, schoben sich die Prozessionen der Gläubigen,
die zur Andacht in der Kathedrale von Canterbury strebten, wo Thomas Becket
ermordet wurde. Chaucer ließ seine fiktiven Pilgerer vom illustren Tabard Tavern
aufbrechen. Auch Dickens siedelt eine der abenteuerlichsten Szenen aus den Pickwick
Papers in dieser Gegend an, genaugenommen im Wirtshaus White Hart. Übrigens
wohnte der junge Dickens in der Land Street und klebte in einer Fabrik Etiketten
auf Bohnerwachsflaschen, während sein verschuldeter Vater im Gefängnis von Marshalsea
schmachtete, das als Schauplatz mehrerer Romanepisoden dient.

Eines dieser alten Wirtshäuser existiert noch heute: das George Inn aus dem
16. Jahrhundert. Ein Besuch lohnt sich um so mehr, als man im Sommer auf den
Holzgalerien in den Genuß von Shakespeare-Aufführungen gelangt.

Der Blick von Southwark zum Nordufer der Themse hat nichts von seiner Erhabenheit
eingebüßt. Allerdings veränderte sich die Landschaft im Laufe der Jahrhunderte
ständig. Auf den Gemälden von Canaletto aus dem 18. Jahrhundert sieht man die
Hügel des vorindustriellen Londons, gesäumt von eleganten Häusern, die vielen
Türme der Wren-Kirchen und die majestätischen, gondelförmigen Schiffe. Fünfzig
Jahre später beschreibt Dickens denselben Fluß in einem mehr als ironischen
Dialog mit Old Father Thames:

»Das Wasser ist hier aber dick, Vater Themse. Doch sagt mir, was ist das für
ein schwarzer und schlammiger Strom, der sich in Euch ergießt, unter jenem großen
Brückenbogen aus rauchenden Ziegeln? - Oh! Das ist nur einer meiner Abwasserkanäle
...«

Damals erhielt die Themse den Beinamen The Great Stink (Der große Gestank),
doch ist sie inzwischen wieder zu einigem Ansehen gelangt, seit die Ableitung
von Industrieabwässern verboten wurde. Freilich reicht es nicht zur Wiederherstellung
der einstigen Würde. Breit, trüb und schmucklos, zieht sie selten die Blicke
der Menschen auf sich, die sie tagtäglich überqueren auf dem Weg zur Arbeit
in die City oder in umgekehrter Richtung zur Unterhaltung in der Royal Festival
Hall.