Komplizierte Sportart

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Ein komplizierter Sport

Über tausend Sportmannschaften und -clubs nutzen die Fußball-, Cricket-, Hockey-
und Rugbyplätze im Regent´s Park, denn ebenso wie die Musik gehört Sport einfach
von Kindesbeinen an zum Lebensstil. Gehen Sie in den Parks spazieren, vor allem
am Wochenende, und Sie werden immer irgendwelche Amateurvereine beim Spielen
erleben, oft unter großer Anteilnahme von Nachbarn und Freunden.

Die Cricketsaison beginnt bei günstiger Witterung in der zweiten Aprilwoche.
Dann wird der makellose Rasen von Lord´s für mehrere Monate zum Anziehungspunkt
von Millionen Briten. Ob Norden gegen Süden, Schwarze gegen Weiße oder Reiche
gegen Arme, das Cricketspiel begeistert England und das gesamte Commonwealth.
Wie einst die hellenisierten Städte zu den Olympischen Spielen zugelassen wurden,
so dürfen »Anglisierte« heutzutage am Crikketkult teilnehmen. Die Einwanderer
aus den Antillen haben es hier übrigens zur unbestrittenen Meisterschaft gebracht.
Das Verhalten auf dem Spielfeld sowie die Befolgung der ausgesucht komplizierten
Regeln machen dem Nationalcharakter alle Ehre: kein Fluchen, keine Mißmutsäußerungen,
kein Anfechten des Schiedsrichterspruchs.

Andererseits kennt London aber auch solche Attraktionen, bei denen die steife
viktorianische Erziehung abgeschüttelt und die gesetzte Ordnung ins Lächerliche
gezogen werden dürfen. Ein Beispiel dafür ist die Chimpanzee Tea Party (Schimpansen-Teeparty):
es handelt sich um einen stilechten Afternoon Tea (Nachmittagstee) mit Toast,
Scones (kleine runde Kuchen) und Porzellantassen, der täglich vier Schimpansen
(zwei Männchen und zwei Weibchen) serviert wird. Die Affen werden für diese
Gelegenheit als leicht verdrehte Aristokraten verkleidet. Nun stellen Sie sich
die wüste Party vor, angefeuert von Schulkindern, die sich über das Schauspiel
halbtot lachen wollen. Im Nu sind der Tee verschüttet, die Kuchen auf den Fräcken
zerbröselt, während die Hüte zerknautscht herumfliegen und die Krawatten im
Milchkännchen hängen. Kurzum, zur größten Erheiterung aller Anwesenden werden
die guten Sitten, das Good Behaviour, ins Gegenteil verkehrt.

Hinter dem Zoo gelangt man zum Regent´s Canal. Am Anlegesteg wartet ein kleines
Schiff, das uns zur warmen Jahreszeit in jenes reizende Viertel bringt, dem
der Dichter Robert Browning den Namen »Klein Venedig« verlieh. Miniaturkähne
in leuchtenden Farben dümpeln auf dem Kanal, und in den Back Gardens (Hintergärten)
genießen Familien friedlich ihren Fünfuhrtee - ob die Sonne scheint oder nicht.
Fast vergißt man, hier mitten in einer Großstadt zu sein. Dieses Viertel ist
ebenfalls von den neuen Bürgern der Thatcher-Ära bevölkert, die gelegentlich
als Disestablishment bezeichnet werden, in Anspielung auf ihr anti-traditionelles
Verhalten - was selbstverständlich nur eine Form von Angepaßtsein darstellt.
Der Direktor einer der jüngsten und mächtigsten Finanzinstitute hat seine Angestellten
in den blumengeschmückten Häuschen der Mews untergebracht, »damit sie in einer
angenehmen Umgebung arbeiten«, und richtete sich selbst auf einem Hausboot in
Little Venice ein.

Das Dekor wechselt unvermittelt, wenn man in Richtung Camden weitermarschiert:
an der Schleuse hat einer der Märkte der Londoner »Szene« Wurzeln geschlagen.
Hier halten sich die echten Punker auf, nicht nur zur Schau wie auf der King´s
Road, sondern sozusagen in ihrer natürlichen Umgebung, mitten in der gemischten
Gesellschaft der Bargeldlosen. Vor dem Hintergrund abweisender Industriehallen
verkehren Künstler aller Art, Verkäufer exzentrischer Schmuck- und Kleidungsstücke,
Krimskrams und Kuchen sowie Antiquitätenhändlern und Budenbesitzer. Ein paar
Schritte weiter ragt das moderne Gebäude des Fernsehsenders Breakfast TV in
den Himmel, geschmückt mit Skulpturen in Form von Frühstückseiern im Toy-World-
(Spielzeugland)-Stil, der so allgegenwärtig in London ist, dass man sich manchmal
wie in einem riesigen Baukasten für Kinder vorkommt.

Vor dem Hintergrund des alten Arbeiterklasse-Bewußtseins mischen sich in Camden
die Einwanderer aus dem Commonwealth und engagierte Intellektuelle, die links
wählen und in der Friedensbewegung aktiv sind. Besonders viele Frauen sind Mitglieder
der CND (Campaign for Nuclear Disarmament), die unermüdlich auf die einseitige
atomare Abrüstung drängt und spektakuläre Aktionen durchführt, wie die feministische
Besetzung des Atomwaffenlagers in Greenham Common seit mehreren Jahren. Wegen
der politischen Entwicklung der letzten Zeit werden sie sich vielleicht neuen
Aufgaben zuwendem müssen.