Künstler und Bohême
Holbein & Co.
Chelsea führte ein beschauliches Dasein, als Thomas More, Kanzler von König
Heinrich VIII. und Verfasser von Utopia, 1524 dort ein Haus am Ufer der Themse
bezog. Er wurde der erste englische Mäzen von Holbein, der 1526 mit einer Empfehlung
von Erasmus nach London kam. Holbein, Maler zahlreicher Porträts von Königinnen
und Königen, Höflingen, Richtern, Seefahrern, Predigern und Kaufleuten, beeinflußte
zwei Kunstrichtungen: die typisch nationale Schule der Miniaturisten, zu deren
erstaunlichsten Vertretern Nicolas Hilliard gehörte, und die Porträtisten, fast
allesamt holländischer Herkunft. Paradoxerweise ist es ihm zu verdanken, dass
die Geschichte der englischen Malerei seit der Mitte der Regentschaft Heinrichs
VIII. eine gewisse Kontinuität aufweist.
Van Dyck begründete im folgenden Jahrhundert die englische moderne Schule.
Als Hofmaler Karls I. fand der Holländer rasch Zugang zur gehobenen Londoner
Gesellschaft und prägte die meisten einheimischen Maler durch seinen mit der
britischen Kunst harmonierenden Stil. Zu seinen begabtesten Schülern zählte
der Engländer William Dobson, mit dem er zusammenarbeitete, obwohl sich ihre
Stile deutlich voneinander unterschieden. Peter Lely trat die Nachfolge der
beiden an, als er 1641 kurz nach dem Tode Van Dycks von Holland nach England
übersetzte, wohin ihm bald eine Reihe ausländischer Maler folgten, um sich in
London niederzulassen.
Die Künstler und die Bohême
Nach der Restauration unter den Stuarts wurde Chelsea zur Sommerfrische und
Freizeitgestaltung von den Aristokraten am Hofe Karls II. genutzt. Im 19. Jahrhundert
genoß es den Ruf eines kulturellen Mittelpunktes: der Historiker und Essayist
Thomas Carlyle, der als »der Weise von Chelsea« in die Geschichte einging, lebte
hier ebenso wie Rossetti und Hunt und später Whistler. Dennoch gibt es keine
bestimmte »Schule von Chelsea«, wie an der deutlich unterschiedlichen Ästhetik
der Gemälde sichtbar wird, welche die alte Holzbrücke von Battersea zeigen.
Damals fand sich eine kleine Künstlergruppe zur sogenannten »Bruderschaft (Brotherhood)
der Präraffaeliten« zusammen mit dem Ziel, den Lebens- und Malstil jener Epoche
zu pflegen. Auf der Suche nach einer Wahrheit, der religiösen Wahrheit, führten
sie ein mönchisches Leben, kleideten sich in Kutten, verboten den Genuß von
Tabak und Alkohol sowie das Fluchen und brachten Elizabeth Sidall, der Gefährtin
ihres Anführers Dante Gabriel Rossetti, als ihrem Weiblichkeitsideal eine keusche
Verehrung entgegen. Ein Beispiel ihrer Extravaganz wurde von William Blake,
einem visionären Maler und Vertreter eines völlig anderen und wesentlich originelleren
Genres, überliefert: Blake hatte eine Verabredung mit dem Präraffaeliten Heinrich
Füssli, dessen Gemälde er bewunderte, vor allem die eigenartige und unheimliche
Reihe der »Nachtmahr«. Er erzählt: »Ich folgte dem Hausmädchen durch einen so
düsteren und seltsamen Gang, dass er einem schon Angst einjagen konnte. Ich stellte
mir Füssli als einen stattlichen Riesen vor. Nun hörte ich seine Schritte näherkommen
und sah eine kleine, knochige Hand an der Tür, gefolgt von einem kleinen, ganz
kleinen Mann mit einer bauschigen, weißen Mähne, in einen alten Flanell-Schlafrock
gehüllt, der mit einem Strick über dem Bauch zusammengehalten wurde. Auf dem
Kopf trug er das Nähkörbchen von Frau Füssli. Da wurde mir klar, dass der Mann
nicht auf der Höhe seines grandiosen Werkes war.« Blake betrachtete jede Verallgemeinerung
als Dummheit. Den Partikularismus nahm er hingegen als Beweis für ein vornehmes
Wesen. Woraus man folgern mag, dass Blake zu den großen Romantikern der englischen
Malerei gehörte.
Ein anderer Bürger von Chelsea, der Amerikaner Whistler, war im Alter von einundzwanzig
Jahren nach London gekommen. Er gilt als Pionier des englischen Impressionismus
und besaß ein überschäumendes Temperament, war bekannt für seinen Sarkasmus
und seine heftige Ablehnung jedweder Kritik. Seine Themse-Studien »Nocturnes«
sind zweifellos mit Oscar Wildes Bemerkung gemeint, dass es seit den Impressionisten
immer mehr Nebel über der Themse gebe. Die berühmten blauen Keramiktafeln, die
in wenigen Worten das Werk bekannter Persönlichkeiten in London würdigen, erinnern
ferner an die Schriftsteller Addison, Swift, Smollett, Oscar Wilde und George
Eliot, D.H. Lawrence und Bertrand Russell sowie an die Amerikaner Henry James
und Mark Twain: die Cheyne Row entlang des Flusses ist sozusagen blau gekachelt.
Am Rande des Viertels verläuft die King´s Road, 1830 als königliche Privatallee
zum Palast Hampton Court angelegt. Als Hauptstraße und Modezentrum von Chelsea
ist sie zwar weniger elegant als andere Straßen, aber wesentlich belebter: das
einstige Mekka der sechziger Jahre, als die Rolling Stones sangen I went down
to the Chelsea drugstore ... ist heutzutage Sammelpunkt der schicken Typen und
Seifenoper-Punker.