Informationsbesessenheit
Politik und Alltag
Gewußt, dass das deutsche Wort »Idiot« von Griechisch idiotis kommt, was soviel
bedeutet wie »Mensch, der sich für öffentliche Angelegenheiten nicht interessiert«,
also unwissend und töricht ist? Und dass Perikles, der große Staatsmann der athenischen
Antike, jene, die weder auf die eine noch auf die andere Weise Politik betrieben,
als »unnütze« Bürger betrachtete?
Faßt man diese Definition wörtlich auf, so zählt Griechenland kein einziges
unnützes Einzelwesen: die Politik ist dort allgegenwärtig, in jedem Haus, in
jeder Familie, in der Schule, in der Universität, auf der Straße, in Tavernen
und Cafés, ja selbst innerhalb der Kirchen. Wagen es Pope oder Prediger, auf
einen Regierungserlaß oder eine Parlamentsentscheidung anzuspielen, so läßt
die Reaktion der Gläubigen nicht lange auf sich warten: die Kirche verwandelt
sich in eine richtige Volksversammlung; Zwischenrufe, Geschrei und Proteste
erheben sich von überall, und die Predigt läuft Gefahr, in einer Prügelei zu
enden.
Informationsbesessene Griechen
Wenn auch das Fernsehen der geschriebenen Presse mächtig zugesetzt hat, so
sind die Griechen nach wie vor in Europa (vielleicht noch nach den Engländern)
die unersättlichsten Zeitungskonsumenten. Begierig auf Nachrichten, insbesondere
aber auf Kommentare, polemische Artikeln und Enthüllungen, findet der hellenische
Bürger keinen so rechten Geschmack an unterkühlten Texten, an Anführungszeichen
und vorsichtigen Modalverben, an Leitartikeln, wo es zwischen den Zeilen zu
lesen gilt. Wenn es nach ihm geht, so muß eine Zeitung, neben der reinen Tatsachenberichterstattung,
deutlich den politischen Standpunkt der Redakteure widerspiegeln. Von ausgeprägter
Skepsis dem gegenüber, was man gemeinhin »Objektivität« nennt, zieht er die
offensichtliche Parteinahme einer gekünstelten oder zweifelhaften Neutralität
vor. Daher das üppige Angebot an parteilichen Tages und Wochenzeitungen, die
Existenz und das Überleben einer eindrucksvollen Zahl politischer Zeitschriften,
ganz zu schweigen von der internationalen Presse, denn in den Großstädten, namentlich
in Athen, Thessaloniki, Patras und Heraklion sowie in den meisten Fremdenverkehrszentren
bieten unzählige Kioske ausländische Druckerzeugnisse an. Es wird daher niemandem
Mühe bereiten, dort die großen deutschsprachigen Tageszeitungen zu finden.
Wie die geschriebene Presse so warten auch die audiovisuellen Medien (zwei
Fernsehanstalten und drei Radiosender) mit einem breiten Angebot an Nachrichten
und Korrespondentenberichten aus der ganzen Welt auf. Nachrichten aus dem Ausland
stehen häufig an erster Stelle; undenkbar, dass jemals Wetterbericht oder Verkehrsbehinderungen
mehr Raum einnehmen könnten als die Konflikte im Mittleren Osten oder dass der
Sport eine wichtige Begebenheit in Lateinamerika an den Rand drängen könnte.
Das griechische Fernsehen überträgt live alle bedeutenden Parlamentsdebatten,
selbst auf die Gefahr hin, Sendungen mit den höchsten Einschaltquoten verschieben
zu müssen: Debatten über Haushalt und Landesverteidigung werden stets aufmerksam
verfolgt, und die Einschaltquoten erreichen Rekordmarken, wenn der Premierminister
im Parlament das Wort ergreift oder der Oppositionschef zur Entgegnung zum Rednerpult
emporsteigt. Schreiten die Abgeordneten dann zur Abstimmung, macht sich vor
den heimischen Fernsehapparaten eine andächtige Stille breit, wird das Essen
auf den Tellern kalt, halten Frauen und Kinder in ihrem Redefluß inne. Knisternde
Spannung liegt in der Luft ... Sodann, je nach Ausgang, überschäumende Freude
oder allgemeine Niedergeschlagenheit; man greift zum Telefon, um Freunde anzurufen
und kommentiert das Ereignis bis tief in die Nacht.
Das rollende Parlament
Parallel zur offiziellen Volksvertretung existiert eine weitere, halbamtliche
aber grundlegende Institution: das »rollende Parlament«. Es handelt sich schlicht
und einfach um den Überlandbus, der die Verbindung zwischen einem Dorf und der
nächstgelegenen Stadt herstellt: ob sich die Fahrgäste nun kennen oder nicht,
jede Diskussion fällt hier auf fruchtbaren Boden. Hierzu genügt es, dass im Radio
Nachrichten gesendet werden, und schon nimmt die Debatte ihren Anfang. Da die
Straße seine ungeteilte Aufmerksamkeit erfordert, tritt der Fahrer seinen Platz
als Präsident des rollenden Parlaments an den Busschaffner ab. Während dieser
die Haltestellen verkündet hält er ein Auge darauf, dass jeder abwechselnd das
Wort ergreifen kann und auch Minderheitenmeinungen ihr Recht auf Gehör erhalten.
Jeder Mitreisende, auch wer erst unterwegs zugestiegen ist, hat Anspruch auf
Teilnahme an der Diskussion; das gilt auch für Ausländer oder xenos, denn es
wird sich immer jemand als Dolmetscher finden. Sie werden zur politischen Lage
in ihrem Land befragt werden, man wird Sie auffordern, Ihre Ansicht zum Gemeinsamen
Markt, zu den allen Winzern gewährten Subventionen, zum eventuellen Beitritt
der Türkei zur EG usw. kundzutun.