Hang zum Handeln
Hang zum Handeln
Da die Göttin Dimitra mit ihrem Weizen nicht besonders freigiebig verfahren
war, blieb den Menschen im antiken Griechenland nichts anderes übrig, als ihn
in der Ferne zu suchen - auf Sizilien, in Kleinasien, in Ägypten - den Hellespont
(die Dardanellen-Meerenge) zu durchqueren, den Stürmen im Schwarzen Meer die
Stirn zu bieten und sich bis zu den Küsten der Ukraine vorzuwagen. Damit hatten
die Griechen Geschmack an Handel und Abenteurertum gewonnen: aus reiner Notwendigkeit,
aber auch aus Neugier und Entdeckungsdrang. Zahlreiche von ihnen gegründete
Handelsniederlassungen und Kolonien rund ums Mittelmeer ließen aus diesem, für
einige Jahrhunderte, ein griechisches Meer werden.
Schiffe der Phokäer, Äolier, Athener und Korinther durchzogen die Wellen, in
ihren Laderäumen Amphoren voller Wein und Honig, Tonkrüge, bis zum Rand mit
Olivenöl gefüllt, Feigen und Rosinen. Seit grauester Vorzeit hinterläßt der,
von der Konkurrenz gefürchtete, griechische Händler einen Duft nach orientalischer
Kolonialwarenhandlung; einer Kolonialwarenhandlung jedoch, die er nur selten
verläßt.
Die Öffnungszeiten der großen Geschäfte und Supermärkte in der Stadt werden
peinlich genau befolgt; wohingegen die Besitzer kleiner Läden an der Ecke, ob
Lebensmittelhändler, Gemüsehändler, Kurzwarenhändler, Metzger oder Kioskbesitzer,
ihren eigenen Zeitplan befolgen, in der Regel abgestimmt auf denjenigen der
Kunden. Ruhig die Schwelle eines Ladens überschreiten, sollten auch die Metalläden
halb heruntergelassen sein oder die Lichter im Inneren gelöscht: solange die
Tür offensteht, wird der Händler Kundschaft empfangen und eilfertig deren Wünsche
zu erfüllen suchen. Und nachts lassen die Apotheker in einer Vitrine ein Stück
Karton mit ihrer Privatadresse zurück.
Basare auf dem Land
König unter den Läden ist der bakaliko, was soviel bedeutet wie Dorfkrämer.
Vielseitigkeit; Erfindungsreichtum; mysteriöses Wissen um zukünftige innerste,
ja sogar uneingestandene Bedürfnisse seiner Kunden; Kenntnis ihrer Gewohnheiten
und Launen; die Fähigkeit, zu jeder Tageszeit das Verlangte zu beschaffen; eiserne
Gesundheit; Widerstandskraft gegen Müdigkeit und Schlafbedürfnis; die Bereitschaft,
bis spät in die Nacht hinein zu arbeiten - dies sind nur wenige der Eigenschaften,
die dem Eigentümer eines solchen Wunderbasars abverlangt werden.
Je kleiner, desto breiter die Palette an Waren: von grünem Gemüse bis elektrischen
Glühbirnen, vom Stockfisch bis hin zu Schnürsenkeln und Schuhwichse, über Konserven,
Butangasflaschen, Wein, kohlensäurehaltige Getränke, die Ecke mit den Kurzwaren
und pharmazeutischen Erzeugnissen für die Erste Hilfe. Wer am Eingang über einen
Stapel Zeitungen stolpert ist gerade über die letzten Ausgaben der Athener Tageszeitungen,
um lokale Blätter und bisweilen auch ausländische Druckerzeugnisse gefallen.
Auch Zeitschriften, ja sogar Bücher sind vorrätig. Vielleicht nicht gerade die
gesammelten Werke Heideggers oder die Proust-Gesamtausgabe, aber wundern Sie
sich nicht, wenn einmal eine griechische Übersetzung der Buddenbrooks oder eine
Ausgabe der Elenden von Zola darunter sein sollte.
Haben Sie nicht das gefunden, wonach der Sinn steht? Schildern Sie dem Inhaber
des bakaliko ruhig Ihr Problem, und zögern Sie nicht, alle Wünsch ungeniert
vorzutragen: am darauffolgenden Tag, wenn möglich sogar noch am selben, wird
er in Erfüllung gehen. Der Kassierer des ersten Omnibusses in Richtung Stadt
trägt Ihre Bestellung schon in der Tasche!
Läden in der Stadt
Auch die Großstädte brauchen nicht auf ihre Händlergenies zu verzichten, auf
ihre Ali Baba-Höhlen. In Athen und Thessaloniki zählen die periptera (Kioske)
nach Tausenden. Andernorts weniger zahlreich, stets aber erstklassig sortiert,
stellen sie regelrechte Miniatur-Supermärkte dar, puppenstubenhafte Pressehandlungen
und Tabakwarenläden, Telefonämter im Miniformat. Hat sich an einer ihrer Brillenbügel
die Schraube gelöst? Wenden Sie sich an den peripteras (Kioskbesitzer). Er wird
Ihnen seinen Gevatter empfehlen, spezialisiert auf Kleinreparaturen von Feuerzeugen,
Brillen, Uhren, usw. In der Zwischenzeit können Sie schon mal die Zeitung lesen
oder eine Postkarte auswählen - während Sie ein Eis löffeln oder sich an die
im selben periptero erstandenen Kekse halten.
Steht der Sinn nach Nahrhafterem, braucht man erst gar nicht lange zu suchen;
das Schnellrestaurant hat nicht auf die Amerikaner warten müssen, um erfunden
zu werden. Bevor es an Straßenecken und Stränden den kleinen Hunger zwischendurch
von Urlaubern stillte, war das souvlaki (kleiner Spieß) Jahrzehnte lang die
Nahrung der Reisenden in den Bahnhöfen und Häfen, in der Nähe der Bushaltestellen
und Durchgangsstraßen. Auf die Konkurrenz der Hamburger ist zurückzuführen,
dass die Spieße in jüngster Zeit an Umfang und Konsistenz zugenommen haben: angereichert
mit Tomaten- oder Zwiebelstückchen und in eine Art Blätterteigtasche gehüllt,
werden sie in Buden entlang der Bürgersteige, Plätze, Strände und Straßen feilgehalten.
Dabei enthalten die schmackhaften und preisgünstigen souvlaki keine chemischen
Bestandteile wie ihre »mehrstöckige« Konkurrenz aus Übersee.
Und die koulouria-Verkäufer (kleine Brote in Kronenform, bedeckt mit Sesamkernen),
die früher einmal die Straße bevölkerten mit ihrem ausladenden Korb auf dem
Kopf? Die ziehen mittlerweile ein kleines Tischchen an den Ausgängen der Athener
Metro vor, unweit der Büros oder in den Geschäftsstraßen. Der kalouri, ein leichter,
knuspriger Imbiß, hin und wieder auch mit einer dünnen Scheibe Käse, darf als
griechisches Hörnchen gelten. Ideal zu einer Tasse Kaffee, ergänzt er auf angenehme
Weise das magere Hotelfrühstück.
Weiteres, in den westlichen Ländern schon verschwundenes oder im Verschwinden
begriffenes Kleingewerbe erfreut sich in Griechenland noch ungetrübter Lebensfreude:
der Schuster um die Ecke, der nicht allein Absätze repariert und Schuhe besohlt,
sondern auch den Griff eines Koffers verstärkt und eine Tasche wieder zusammennäht;
die auf- und abmarschierenden Eis- und Pistazienverkäufer, häufig gefolgt von
paliatzides, ambulanten Trödlern, die alle nur erdenklichen Altwaren ankaufen,
verkaufen und tauschen.
Das Feilschen
Das Feilschen spielt zum einen eine stimulierende Rolle im Marktgeschehen;
gleichzeitig erlaubt es aber auch dem Kunden, sich ein genaues Bild von der
Ware zu machen Herkunft, Herstellungspreis und Gestehungskosten, betreffs des
Verhältnisses von Qualität zum Preis und der Gewinnspanne. Selbstverständlich
sollen alle Auskünfte dazu beitragen, Sie vom vorgeschlagenen Kaufpreis zu überzeugen;
Sie können diese aber auch mit ein wenig Geschick zu Ihren Gunsten einsetzen:
zunächst muß die Qualität des Artikels in Abrede gestellt werden, selbst wenn
alles bestens scheint. Der erste Schritt hin auf ein Handeln ist getan. Die
ersten Augenblicke sind dabei die entscheidendsten. Ein Händler, der jeder Vorstellung
eines Preisnachlasses sein kategorisches Nein entgegenhält, also auf das Spiel
erst gar nicht eingehen möchte, droht ehrlich zu sein oder ... ist sich des
Touristenzustroms in seinen Laden allzu sicher. Geht er dagegen nur ein paar
Pfennige vom Preis herunter, steht die Tür zu Verhandlungen weiterhin offen.
Alles weitere hängt vom Talent jedes einzelnen Kunden ab. Zum Schein aufzugeben,
den Laden zu verlassen, kann einen kurzatmig gewordenen Handel wiederbeleben.
Ruft Sie der Händler zurück und zeigt er sich zu einigen Zugeständnissen bereit,
seien Sie Ihrerseits zu einem für beide Parteien ehrenhaften Kompromiß bereit.
Sie werden mit der ausgesuchter Höflichkeit bedient werden.
Gesten
Untrennbare Bestandteile jedes Handels, spielen Gesten auch im gesamten übrigen
Alltag eine kaum zu überschätzende Rolle. Gesten begleiten nicht nur das gesprochene
Wort; sie unterstreichen es, ergänzen es und ersetzten es häufig sogar. In manchen
Fällen ist ihre Ausdruckskraft dazu geeignet, das daneben gesprochene Wort als
arm, überholt, ja unnütz erscheinen zu lassen. Im Bewußtsein ihrer Unterlegenheit
laufen die Sätze den Gesten hinterher, ohnmächtig, verschüchtert, ergeben. Auch
wenn sie im Verlauf einer Diskussion hart und gewalttätig werden, so sind Worte
dennoch nicht in der Lage, so tief zu verletzen wie bestimmte Gesten. Schließlich
und endlich, vielleicht sogar in erster Linie, verleihen Gesten dem öffentlich
gesprochenen Wort seine visuelle Ausdrucksform, seinen schauspielerischen Aspekt.
Wieviel Vergnügen muß es bedeutet haben, Demosthenes seinen leidenschaftlichen
Diskurs gegen Philipp von Makedonien halten zu sehen, und Aischines diesen beantworten!
... Und welch eine Augenweide müssen die endlosen Diskussionen zwischen Sokrates
und seinen Schülern gewesen sein, die Apologie vor seinen Richtern! ...
Redner und zeitgenössische griechische Politiker halten an diesen antiken Gepflogenheiten
fest. Versuche ihrer PR-Berater waren fruchtlos, sie vor der Kamera eine »europäischere«
Haltung einnehmen zu lassen, ihre Bewegungen zu zügeln. Sie hatten dabei eine
wesentliche Tugend der Geste in der griechischen Rede übersehen: die Kraft der
Überzeugung.